das schneemädchen

und überhaupt, es gibt eben diese nächte, in denen ungeheuer in der dunkelheit lauern. ungeheuer, die ihre zähne fletschen. die darauf warten, dass du aufwachst und ängstlich neben dich greifst, weil du eine hand zum festhalten suchst. aber du findest nichts. außer dem endlosen ödland deiner matratze, das sich kaltschnaubend unter dir ausbreitet.

vielleicht sind das nächte, in denen du nicht zusehen möchtest, wie die schneeflocken im orangefarbenen laternenlicht auf den asphalt stürzen. vielleicht willst du wieder die augen schließen und nicht an die ungeheuer denken, die in deinem schrank wohnen, sondern viel lieber eine gute-nacht-geschichte erzählt bekommen. wie etwa die geschichte vom schneemädchen.

hier ist sie. und sie ist nur für dich.

nadjenka lässt sich mit weit ausgestreckten armen nach hinten fallen. der pulverschnee macht ein schmatzendes geräusch und verschluckt das kleine mädchen. nur der rote bommel ihrer wollmütze ragt noch aus dem weißen meer aus eiskristallen hervor. sie lacht laut auf und rudert mit ihren armen und beinen. auf und ab. hin und her.

der eisige wind hat ein zartes rosa auf ihre wangen gemalt. den dicken schal hat sie sich zweimal um den hals gewickelt. die bunte mütze mit dem großen bommel sitzt tief im gesicht und bedeckt ihre ohren. unter dem schweren mantel trägt sie einen strickpullover, darunter eine vielzahl von lang- und kurzärmligen t-shirts. die hose ist aus schwerem stoff, der die kälte nicht von ihr abhält, sondern sie wie wasser in sich aufsaugt. aber ihre mutter hat ihr auch noch eine strumpfhose aus dem schrank geholt. die kratzt zwar immer ein wenig, jedoch hält sie nadjenkas beine warm. ihre füße sind mit zwei paar socken gegen die minusgrade und den tiefen schnee geschützt und stecken in festen stiefeln.

matrjoschka hat ihre mutter sie genannt. aber sie fühlt sich eher wie eine zwiebel. eingepackt in zahllose woll- und stoffschichten. wenigstens friert sie nicht. und bewegen kann sie sich trotz allem auch noch. sie macht, wie um das gedachte zu überprüfen, noch einmal fliegende bewegungen mit ihren armen. ja, das geht, kichert sie. und dabei blitzen ihre weißen milchzähne auf, die genauso strahlen wie das schneetuch, das sich, so weit das auge reicht, über die hügelige landschaft gelegt hat.

sie steht auf und klopft sich den schnee von der kleidung, der nun in die engelförmige mulde rieselt. ihre schlittschuhe hat sie in einer großen tasche versteckt, damit mama sie nicht sehen konnte. was hast du da eingepackt?, fragte mama noch. nur ein paar kekse und etwas heiße schokolade, war ihre antwort, die etwas zögerlich über ihre lippen schwappte, aber immer noch schnell genug aus ihrem mund kam, um mama nicht argwöhnisch zu machen. denn mama hatte ihr verboten, alleine schlittschuhlaufen zu gehen.

nadjenka zieht einen stiefel aus, stellt ihn neben sich und streckt ihr bein nach oben, damit der fuß nicht in die schneeschicht taucht und nass wird. sie greift in die schwere tasche, die halb im winterlichen milchschaum versunken ist, zieht einen schlittschuh heraus und schlüpft hinein. sie bohrt die kufe vor sich in den schnee, und bindet die schnüre abwechselnd von rechts nach links über kreuz, bis sie oben ankommt und eine schlaufe mit einem doppelten knoten zusammenzieht. danach zieht sie den anderen stiefel aus und wiederholt das prozedere.

wackelig steht sie auf und geht auf die eisfläche zu. vorsichtig setzt sie die erste kufe auf den spiegelglatten see. die gefrorene schicht fühlt sich fest an. fest genug, um nadjenkas gewicht zu tragen. sie drückt sich beherzt vom ufer ab, winkelt ihr bein an und gleitet auf einer kufe bis in die mitte des sees. wie ein stolzer schwan schliddert sie weiter vorwärts, schlägt alternierend mit dem linken und dem rechten fuß die langen stahlstreifen im scherwinkel in das eis. dann bleibt sie auf der stelle stehen und dreht sich wie eine spieldosenprinzessin im kreis.

sie taucht so unerwartet und abrupt in das eiswasser ein, dass der kälteschock ihr den atem nimmt. sie hat die risse nicht gesehen, so sehr war sie in sich vertieft, während die welt sich wie ein langes achselzucken um sie drehte. das kalte wasser nimmt sie sofort in die arme und legt sich entschlossen um ihren kleinen körper, so fest und duldsam, dass ihr herzschlag vor lauter schreck schluckauf bekommt. bevor sie überhaupt darüber nachdenken kann, an den rand der eisscholle zu gelangen, saugt ihre bekleidung das blaue nass so tief in sich ein, dass sie wie ein stein in der tiefe zu versinken droht. sie rudert hektisch mit ihren armen und beinen. gerade so, als wolle sie wieder einen engel in den schnee zeichnen. aber jetzt geht es nicht um spielereien. jetzt geht es um weitaus mehr.

vielleicht sind erst zehn sekunden vergangen. vielleicht auch zwanzig. aber schon spürt nadjenka, wie das gewicht ihres körpers sie nach unten zieht, wie jede bewegung weiter an ihren kräften zerrt und sie der erschöpfung näher bringt. und auf einmal ist es nicht mehr die bittere kälte des eiswassers, die sich in ihre haut beißt. sondern ein stechender schmerz, der sie umfasst, als wäre sie von flammen umgeben. ihre atmung ist schnell und flach. kurze stöße, die ihr die luft in kleinen portionen in die lungen pressen. fortwährend taucht ihr kopf unter die wasseroberfläche. wieder und wieder schluckt sie eiskaltes wasser, wenn sie einatmen will. und von mal zu mal werden ihre schwimmstöße fahriger.

eine stimme dringt zu ihr durch. eine stimme, die nicht in ihre ohren rauscht, sondern die ruhig und gleichmäßig zwischen ihren schläfen fließt. halt still, snegurotschka, halt still. versuch dich möglichst wenig zu bewegen. teil dir deine kräfte ein. snegurotschka, ich bin bei dir. hier ist meine hand. nimm sie. und halt dich an ihr fest. es ist die stimme ihrer verstorbenen großmutter.

unerwartet spannt sich ein karussell aus bildern um ihre augen. ein farbrauschendes geflecht aus sich überlagernden erinnerungen. momentaufnahmen ihrer großmutter, der kleinen frau, die nicht viel größer als nadjenka war und manchmal sogar noch kleiner wirkte, weil sie immer vornübergebeugt lief, abgestützt auf einem abgegriffenen gehstock. deren gesicht so tiefe falten hatte, dass nadjenka dachte, alles, was ihre großmutter jemals erlebt hatte, habe sich in ihrer haut verewigt, so wie die lebenslinie auf einer handfläche mit jedem jahr einen tieferen graben zieht. und deren mund im schlaf so eingefallen war, wenn sie ihre falschen zähne auf dem nachttisch liegen hatte, dass nadjenka dachte, großmutter habe ein lachen verschluckt. deren augen so klar und leuchtend waren, als könne ihnen das alter nichts anhaben, als hätten sie alles, was sie jemals gesehen haben in sich gespeichert und würden es jetzt in jeden blick legen, mit dem sie die welt um sich herum aufmerksam betrachtete. deren winzige hände schon etwas verschrumpelt und rauh, doch immer gut gepflegt waren und jeden abend auf nadjenkas bettdecke ruhten, wenn sie ihr eine gute-nacht-geschichte erzählte. deren ohren nicht mehr alles hörten, so dass nadjenka beim kartenspielen mit ihrer großmutter manches zwei- oder dreimal sagen musste, vielleicht, so dachte nadjenka, weil diese ohren in ihrem langen leben schon viel zu viel gehört hatten, um jetzt noch platz für neue worte zu haben. für nadjenka war ihre großmutter nicht nur der weiseste mensch, den sie kannte, die größte geschichtenerzählerin weit und breit und die aufmerksamste zuhörerin, die ihr je begegnet war. sie war vor allem ihre beste freundin.

die bilderflut bricht jäh in sich zusammen und eine schwarze wand türmt sich um nadjenka auf. da ist kein eiswasser mehr. und auch keine kälte. da ist kein atmen mehr. und auch keine bewegung. da ist nicht mal mehr ein körper, der versinken kann. da ist nur noch bleierne schwärze. und dann nichts mehr. snegurotschka, bleib bei mir …!

 

wärme flutet ihren körper. ihre hände fühlen sich taub an, nur diese winzigen stechenden nadeln in den fingerspitzen und fußzehen, die spürt sie. und dieses kribbeln in armen und beinen. und da ist dieses wabernde leuchten, als sie die augen öffnet. sie blinzelt, weil sie sich erst an die helligkeit gewöhnen muss. sie braucht einen moment, um zu erkennen, dass es kaminfeuer ist, in das sie schaut. eingewickelt in eine flauschige wolldecke nimmt sie das knistern der holzscheite wahr und das tiefe seufzen, das der schlafende hund an ihrer seite von sich gibt. was für ein hübsches tier, denkt nadjenka. wie er da liegt, mit seinem goldenen fell, und sie sich bei ihm sofort sicher fühlt.

“trink den tee, solange er noch heiß ist!” die stimme ist brüchig und dünn wie das blecherne krächzen eines kleinen taschenradios. “wer sind sie?”, fragt nadjenka, legt eine kurze pause ein, in der sie den kopf zur seite dreht, um herauszufinden, wer mit ihr spricht, und schiebt gleich die nächste frage hinterher: “und wo bin ich?”

“hab keine angst, kleines fräulein, ich bin philipp”, sagt der alte mann, der neben ihr wie zusammengefaltet in einem schweren sessel sitzt, “ich habe dich aus dem see gefischt, halb erfroren und bewusstlos. jetzt bist du in meiner hütte. du wärmst dich hier erst mal auf. dann bringe ich dich nach hause. zu deinen eltern”.

er muss mindestens hundert jahre alt sein, denkt nadjenka. sein gesicht sieht aus wie ein zerknülltes blatt papier, so zerknittert ist es. er wirkt gebrechlich, wie ein mensch, der im laufe seines lebens geschrumpft ist und jetzt zu viel haut an seinem körper trägt. aber etwas weiches, sehr warmes und freundliches liegt in seinem müden blick. etwas, das nadjenka beruhigt und jedes fünkchen angst, das sie bei einem fremden haben sollte, auf der stelle verscheucht. “danke”, sagt sie zaghaft.

philipp schaut runter zu dem hund, “mir brauchst du nicht zu danken. dank ihm. ohne ajosch hätte ich dich nicht gefunden.” ajosch hebt seinen kopf, nur ein paar zentimeter, gerade so, als wolle er bestätigen, dass es um ihn geht, dann legt er ihn wieder auf seine vorderpfoten, die über kreuz auf nadjenkas decke ruhen, schnaubt zufrieden und schläft weiter. “es ist fast schon ein kleines wunder”, redet philipp weiter, “wie aus heiterem himmel fällt das bild vom kamin, ajosch schreckt auf und rennt zur tür. er bellt ganz aufgeregt und kratzt wie wild an der tür, ich denke, jemand muss vor der tür stehen und öffne sie, aber da ist niemand. ajosch indessen hechtet sofort nach draußen, bleibt immer wieder stehen, dreht sich zu mir um und bellt. dann läuft er ein paar schritte weiter. ich vertraue ajosch und seinem instinkt. wenn er so etwas veranstaltet, muss es einen grund dafür geben. also ziehe ich meinen mantel über und gehe hinter ihm her. er hat mich direkt zu dir geführt.”

“danke, ajosch”, flüstert nadjenka und streichelt ihm über den kopf. sie trinkt einen schluck tee, der noch immer sehr heiß ist.

“nun weißt du, wer wir sind. aber wie ist dein name, kleines fräulein?”

“ich heiße nadjenka.”

“ein schöner name. hast du hunger, nadjenka?” er steht auf, ohne eine antwort abzuwarten. “ich hole dir ein paar kekse, es kann nicht schaden, wenn du etwas isst, um wieder zu kräften zu kommen. du magst doch schokoladenkekse, oder?”

er geht so langsam in richtung flur, dass sich nadjenka fragt, wie der alte mann sie aus dem wasser ziehen konnte. jeder einzelne schritt scheint für ihn eine große anstrengung zu sein. nadjenka sieht sich das bild auf dem kamin an, das bild von dem philipp erzählt hat. es zeigt ein junges mädchen, sie mag vielleicht anfang oder mitte zwanzig sein. die aufnahme ist farblos und verblichen. nur weiß, schwarz und dazwischen eine abstufung von grautönen. das foto muss sehr alt sein und farbe gab es damals wohl noch nicht, denkt nadjenka. aber wie hübsch sie ist! auf ihren lippen funkelt ein bezauberndes lächeln. wie eine prinzessin sieht sie aus, denkt nadjenka. denn nur prinzessinnen können so schön sein. der rahmen um das bild ist entzwei gebrochen und das glas zersplittert. dennoch glaubt nadjenka, noch nie etwas so wundervolles gesehen zu haben. der alte mann muss dieses mädchen sehr gerne haben, denkt sie.

philipp kommt mit einem teller voller schokoladenkekse zurück, den er vor nadjenka auf den tisch stellt. wieder sind seine bewegungen so langsam und schwerfällig, dass sie sich fragt, wie alt ein mensch überhaupt werden kann. aber das streift nur kurz ihre gedanken. was weitaus größeren raum einnimt, ist ihre neugierde, die unverdrossen und kindlich unbedarft aus ihr heraus plätschert: “das mädchen auf dem foto, wer ist sie? deine tochter?”

“nein”, antwortet philipp schmunzelnd. dann legt sich ein glänzendes schimmern in seine augen, das nadjenka nicht zu deuten weiß. ist er traurig? oder ist es freude, die da leuchtet? oder gar beides? obwohl nadjenka nicht verstehen kann, wie man beides gleichzeitig empfinden soll.

“als wir uns kennenlernten, waren wir beide noch sehr jung … 66 jahre liegt das nun zurück. fast auf den tag genau.”

“erzähl mir davon! ich möchte wissen, wer sie war. bitte!”

vielleicht ist es die unschuld, die aus ihren worten tropft. vielleicht auch etwas anderes. auf gewisse weise erinnert nadjenka ihn an das junge mädchen auf dem foto. und vielleicht ist es auch einfach der rechte moment, um seine geschichte zu erzählen. und so lässt er sich in die vergangenheit fallen.

 

in jenen tagen hatte klirrende kälte das land fest im griff. und das einschläfernde grau des winters war unter einer dicken schneeschicht verschwunden. so viel schnee hatte ich seit meiner kindheit nicht mehr gesehen. es war der kälteste februar, den ich je erlebt habe. und dennoch ging ich jeden abend im park spazieren, um die sterne zu betrachten, die in diesen klaren nächten besonders hell leuchteten. vielleicht, kleine nadjenka, wollte ich auch die narben, die der krieg hinterlassen hatte, nicht mehr spüren. vielleicht hatte ich die hoffnung, das könne alles erfrieren und absterben, wenn ich mich nur oft genug wie ein landstreicher der kälte aussetzen würde.

als ich sie das erste mal sah, saß sie alleine auf einer parkbank. schneeflocken rieselten durch den nachthimmel und bedeckten sie von kopf bis fuß. ihre kleidung war abgenutzt, hatte schon zu viele winter überstehen müssen, ihr körper war schlank und sie wirkte so zart und filigran – eine einzige windböe hätte sie davon tragen können.

niemals hätte ich mich getraut, ein fremdes mädchen ohne rechten grund anzusprechen. aber in ihrem blick lag eine unergründliche wehmut, die mir die brust zusammenschnürte, gleichwohl aber ein gefühl tiefster zuneigung aufkommen ließ, so dass ich allen mut zusammen nahm und zu ihr ging.

“wertes fräulein, darf ich es wagen, mich zu erkundigen, warum ich sie bei dieser lieblosen witterung und zu dieser späten stunde alleine auf einer parkbank vorfinde, frierend und zugeschneit?”

“sie dürfen, junger mann. doch muss ich ihnen eine antwort schuldig bleiben. es sind umstände, deren unerfreuliche natur zu tiefgründig für fremde ohren ist.”

“dann werde ich mich schweigend neben sie setzen, wenn sie erlauben.”

“setzen sie sich, aber schweigen sie nicht. es gibt unzweifelhaft noch viele andere dinge, über die es sich zu reden lohnt. nur reden sie! seien sie nicht so schüchtern, bitte. es mag vielleicht helfen, mich etwas aufzuwärmen, wenn ich mich mit ihnen ein wenig unterhalte.”

“ach, was soll ich ihnen nur erzählen?”

“was immer es sein mag. ich höre zu.”

“womöglich möchten sie wissen, warum mein blick an das himmelszelt gehaftet war, bevor ich sie sah? zumal mir jetzt nichts anderes in den sinn kommen will.”

“weiter, erzählen sie!”

“schauen sie, dort oben, etwas überhalb des löwen, da ist ein ganz unscheinbares sternenbild, der leo minor, der kleine löwe. er wird oft übersehen, weil er nur aus zwei sternen besteht, die nicht sonderlich hell leuchten. aber gerade deswegen ist mir dieses sternenbild das liebste. zwei unauffällige sterne, zwischen denen eine imaginäre linie verläuft …”

“sind sie ein so gescheiter kopf? oder haben sie das bloß auswendig gelernt, um damit unbedarfte mädchen zu beeindrucken?”

“weder noch! das ist nur den vielen nächten zu schulden, die ich im krieg unter freiem himmel verbringen musste.”

“das möchte ich mir lieber nicht vorstellen. sie müssen schreckliches gesehen und erlebt haben. aber es rührt mich, dass sie des nachts nach sternen ausschau gehalten haben.”

“verzeihen sie, wenn ich das so sage, aber womöglich sind sie mir genau deswegen aufgefallen.”

“was meinen sie?”

“sie sahen wie etwas aus, das vom himmel gefallen ist, das einfach nicht hierher gehört, weil es zu schön ist, um seinen platz in einer welt wie dieser zu haben.”

“wie frech sie sind! mir ohne weiteres ein kompliment zu machen. und so ein feines! ich kann nur froh sein, dass die kälte bereits meine wangen eingefärbt hat. sonst fiele ihnen auf, dass ich nun wegen ihnen erröte.”

“das lag nicht in meiner absicht! aber ich kann auch nicht behaupten, es zu bereuen.”

“um ehrlich zu sein, ihre kleine schmeichelei hat mich erwärmt. dennoch, ich werde nun nach hause gehen. es ist spät. und die nacht ist bereits zu weit fortgeschritten für uns beide.”

“ob ich sie wohl morgen wieder hier antreffen darf?”

“treuer freund – so nenne ich sie, obwohl wir uns kaum kennen –, ich kann es nicht versprechen. aber ich darf ihnen sagen, dass mir ihre gesellschaft sehr gefallen hat. vielleicht sehen wir uns wieder. vielleicht …”

“ich werde morgen zur selben stunde hier sein. wenn ihnen danach ist, freue ich mich darauf sie wiederzusehen.”

“auf bald …”

“auf morgen!”

“vielleicht …”

“warten sie! wie heißen sie? sie haben mir ihren namen noch nicht verraten.”

“das mag noch ein geheimnis bleiben. nennen sie mich vorläufig nur schneemädchen. immerhin haben sie mich doch eingeschneit vorgefunden …”

“ich heiße philipp.”

“gute nacht, philipp.”

“auf wiedersehen, schneemädchen.”

den nächsten abend wartete ich vergebens auf sie. und auch an den darauf folgenden. es dauerte eine woche, bis ich sie wiedersah. abermals saß sie verloren auf der parkbank – wie jemand, den das leben übersehen hatte.

“schneemädchen! wie schön, sie zu sehen!”

“ach, philipp, es tut mir unendlich leid, aber ich konnte in den vergangenen tagen nicht kommen. es ging einfach nicht.”

“schweigen sie! zumindest hierüber. ich brauche keine gründe für ihr fortbleiben. jetzt sind sie da. und das alleine reicht aus, um das warten vergessen zu machen.”

“danke! setzen sie sich zu mir und schenken sie mir ein bisschen wärme.”

“wenn ich ihnen doch nur mehr geben könnte als das!”

“sie wissen ja gar nicht, wieviel mir ihre anwesenheit bedeutet und wie gerne ich mich mit ihnen unterhalte. ich sehe ihnen doch an, dass sie genauso wenig besitzen wie ich. machen sie nicht so ein gesicht. das ist nichts, wofür man sich schämen muss. nicht in diesen zeiten.”

“es verstimmt mich nur, sehen zu müssen, wie sehr sie frieren, liebes schneemädchen. ich fühle mich derart machtlos, dass es mir den magen dreht!”

“machen sie sich keine sorgen. nicht wegen mir! ihre worte reichen mir aus. sie bescheren mir ein lächeln. das ist mehr wert für mich als alles andere. und wenn sie mir nun noch ihren arm geben, damit ich mich bei ihnen einhaken kann, will ich gänzlich zufrieden sein.”

“nehmen sie meinen arm. nehmen sie auch den anderen, wenn sie wollen. das alles soll ihnen gehören. solange sie möchten.”

“ich möchte ihnen ein geheimnis verraten, philipp.”

“nur zu!”

“nein, ich kann es doch nicht.”

“sie wollen mich wohl zum narren halten?”

“nein, gewiss nicht! ich habe es mir lediglich anders überlegt.”

“wie schnell sie doch ihre absichten ändern können. geschieht das häufiger?”

“ich habe eben so viel vertrauen gespürt, dass ich wankelmütig wurde. tragen sie es mir bitte nicht nach! legen sie lieber ihren arm um mich. nun machen sie schon! ich möchte meinen kopf auf ihre schulter legen.”

“ich werde mir morgen etwas geld borgen, damit ich sie abends ausführen kann!”

“stürzen sie sich nicht in unkosten. nicht meinetwegen.”

“machen sie sich darüber keine gedanken! es gibt hier gleich in der nähe ein café. das essen ist einfach, aber gut.”

“und wenn ich morgen keine zeit für sie habe?”

“dann bin ich übermorgen wieder hier. und wenn es sein muss, bin ich von nun an jeden abend hier …”

“das ist süß von ihnen. ich werde sehen, ob ich kommen kann.”

erneut vergingen endlose abende, an denen ich sie nicht antraf. abende, an denen ich mich fragte, ob ich sie überhaupt je wiedersehen würde. abende, an denen ich alleine auf der parkbank saß und den kleinen löwen beobachtete. neun tage und nächte zogen ins land, dann war sie wieder da.

“philipp! entschuldigen sie mein wegbleiben. sie haben mir so gefehlt!”

“sie mir auch. nun kommen sie! heute wollen wir sie nicht der kälte aussetzen. heute wollen wir eine kleinigkeit essen gehen und uns mit rotwein aufwärmen.”

“ich habe ihnen doch gesagt, dass sie das nicht machen sollen!”

“keine widerrede, liebes schneemädchen. hier, nehmen sie meinen arm und dann lassen sie uns gehen.”

als ich ihr im café den mantel abnahm, sah ich zum ersten mal wie dünn sie eigentlich war. sie schien sich ein wenig zu genieren, so schnell setzte sie sich an den tisch und versteckte ihren ausgezehrten körper. sie bestellte zuerst nur eine suppe, das billigste gericht auf der karte, und klammerte sich lange an ihr weinglas, von dem sie nur sehr zögerlich nippte. nach einigem hin und her konnte ich sie dazu überreden, ihr noch etwas fleisch mit kartoffeln zu bestellen. sie aß so langsam, dass es mir vorkam, als wolle sie jeden bissen bis zum letzten auskosten. wahrscheinlich hatte sie seit tagen nichts vernünftiges zu essen bekommen.

nachdem ihr magen gefüllt war, trank sie mehr wein, und ich bestellte eine weitere flasche. ich machte mir keine gedanken um das geld und wie ich es zurückzahlen sollte. das war jetzt nebensächlich. wichtig war nur, dass wir zusammen waren. und dass ich sie lächeln sah.

unsere zungen wurden stetig leichter. man könnte behaupten, ihnen wuchsen flügel. und doch wählten wir unsere worte so sorgsam aus, als hätten wir angst, auch nur eines zurücknehmen zu müssen. aber als aus dem massiven röhrenradio, das auf der bar stand, ein langsames klavierstück zu hören war, stand ich auf und nahm ihre hand.

“darf ich sie … ach, was soll’s … darf ich dich um diesen tanz bitten?”

“ja, sehr gerne!”

ihre wangen glühten als ich sie in den armen hielt. und dieses mal war es nicht die kälte, es war etwas anderes. etwas, das sie dazu brachte, mir ins ohr zu flüstern – obwohl uns ja doch keiner hören konnte, da wir die einzigen gäste waren.

“bist du so nett und nimmst mich heute nacht mit zu dir nach hause? es gibt keinen anderen ort, an dem ich jetzt sein möchte.”

“aber ich habe nur ein kleines studierzimmer!”

“das ist mir gleich. und wenn wir unter dem sternenhimmel schlafen müssten. ich möchte einfach nur, dass du in meiner nähe bist.”

am nächsten morgen verließ sie mein zimmer, während ich noch schlief. alles, was zurückblieb, waren ihr warmer abdruck auf der matratze und der süße duft von reifen weintrauben.

selbstverständlich suchte ich in den nächsten tagen jeden abend den park auf. aber unsere bank blieb leer. es machte fast den anschein, als habe ich mir das schneemädchen nur eingebildet. als wäre sie nie dagewesen.

einige wochen später fand ich einen großen umschlag in meinem briefkasten. in ihm war das foto, das nun auf dem kamin steht. und auf seiner rückseite eine handschriftliche notiz:

lieber philipp! verzeih mir, dass ich mich nicht mehr mit dir treffen kann. zu mächtig ist mein geheimnis geworden. so einnehmend, dass ich nun unsere verbindung auflösen muss. obwohl ich es bis in alle zeit bereuen werde. aber wenigstens meine erinnerungen an dich kann mir keiner mehr nehmen … in ewiger verbundenheit, deine snegurotschka

 

“auch heute noch, nach all den jahrzehnten, vergeht kein tag, an dem ich nicht an sie denke. kein tag, an dem ich sie nicht vermisse …“

nadjenkas blickt haftet nachdenklich an dem foto. diese geheimnisvollen augen, sie kommen ihr so vertraut vor. und auch die feinen grübchen, die hohen wangenknochen und die schmalen lippen. sie überlegt noch eine weile, aber dann ist sie sich ganz sicher, dass es die gleiche person ist, die zu ihr nach jeder gute-nacht-geschichte sagte: und nun schlaf gut, mein schneemädchen …

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