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amour fou

ich habe einen spleen. ich lese bücher so, dass sie hinterher ungelesen aussehen. ich knicke keine seiten. ich vermeide eselsohren. ich schreibe keine anmerkungen rein. ich unterstreiche keine sätze. ich lege sie nicht in die sonne, aus angst, dass sich die seiten wellen. und ich halte jedes buch beim lesen so, dass der rücken keine risse bekommt.

wenn ich andere dabei beobachte, wie sie kaffeeflecken verteilen, ihre bücher so weit aufschlagen, dass sich dünne bruchstellen auf dem rückentitel abzeichnen oder sie achtlos in vollgestopfte taschen werfen und infolgedessen allmählich die ecken abstehen und die kanten abgewetzt werden – dann bekomme ich bauchschmerzen. dann habe ich das bedürfnis, das buch aus den nichtsnutzigen händen zu reißen, es in meine arme zu schließen und das drangsalierte juwel in schutz zu nehmen.

dabei mag ich dinge, die abgenutzt sind. denen man ansieht, dass sie ein leben geführt haben, das spuren hinterlassen hat. ich mag es, wenn die verwitterung eine vielschichtige patina auf der oberfläche ausbildet. wenn farbe abblättert. wenn staub etwas in vergessenheit hüllt. und ich mag den geruch alter bücher. aber zerschlissene bücher, die bereiten mir bauchschmerzen.

vielleicht liegt es daran, dass ich in worte verliebt bin. dass ich so sehr in sie eintauchen kann, dass ich irgendwann ihren geschmack wahrnehme und ihre farben sehen kann. vielleicht liegt es daran, dass worte für mich libellen sind – verirrte meeresfische, die an land gespült werden und das wellenlose luftholen mancher tage mit ihrem flügelschlag zerteilen können. vielleicht ist das verrückt. aber worte sind manchmal alles, was bleibt, wenn auflösungsprozesse ihre fußabdrücke in den sand tackern. selbst sprachlosigkeit ist dann nur ein wort, das sich noch aufschreiben lässt, wenn die lippen längst aus lauter zorn oder verständnislosigkeit zusammengepresst sind.

in meinem bücherregal steht nur ein einziges buch, das durch und durch zerlesen aussieht. das aussieht als wäre eine horde von elefanten mehrere male wutentbrannt darüber hinweg gerannt: betty blue (im original: 37,2º le matin) von philippe djian. der rückentitel ist kaum noch zu entziffern, weil unzählige weiße risse über die auf schwarzen untergrund gedruckten buchstaben tänzeln. der kartonierte einband ist abgegriffen, die farbe an den rändern abgewetzt. die seiten sind vergilbt von all den zigaretten, die ich beim lesen geraucht habe. stellenweise sind sie verknickt, weil ich nicht anders konnte, als das buch wieder und wieder atemlos an meine brust zu pressen, wenn ich absätze verschlungen habe, in denen die aura des scheinbar banalen die poesie des alltags versprühen und ein bescheuertes grinsen in mein gesicht meißelten. manche sätze habe ich unterstrichen. manche sogar zweimal. und auf den letzten seiten sind wasserschäden, weil verrückte lieben stets traurig enden.

das buch ist so abgenutzt wie eine alte hure. aber jedes mal, wenn ich es wieder lese, ist der text so frisch wie der schoß einer jungfrau. es sind sätze, deren rhythmen wie musik daherkommen, die so leicht und klar wie ein unschuldiger gebirgsbach sprudeln und dennoch die wucht eines kinnhakens besitzen, die mich dieses buch so lieben lassen, dass ich es wenigstens einmal im jahr in die hand nehme. und sei es nur, um ein paar vertraute stellen nachzulesen.

jetzt liegt es als (gekürztes) hörbuch hier. ich habe mich lange dagegen gewehrt, weil ich der meinung war, ben beckers stimme sei zu schwer, zu tief für einen text, der so sehr von filigraner leichtigkeit lebt. aber schon nach den ersten sekunden haucht das volltönende brummen den unvergleichlichen takt eines schwerelosen lebensgefühls in meine ohren. und ich bin überrascht, wie schnell betty aus den zeilen aufsteigt und barfuß ihre flirrige energie durch meine eingeweide trägt. wie schnell sich die mauvefarbene gelassenheit eines sonnenuntergangs in meinen fingerspitzen breit macht. und dann sind da absätze, bei denen ich laut mitrede – so oft habe ich betty blue schon gelesen. so oft, dass ich irgendwann aufgehört habe mitzuzählen.

wahrscheinlich mag ich das buch so sehr, weil ich einen faible für verrückte liebesgeschichten habe. mich faszinieren kontraste. ich bekomme weiche knie, wenn hinter blitzenden fassaden an einer kleinen stelle das mauerwerk zu sehen ist. wenn hinter aufgerissenen designer-tapeten der verputz hervorlugt. wenn jemand meine texte liest und unter tränen lacht, weil er nicht weiß, ob er aufgeheitert oder traurig sein soll. und mich reizen unmöglichkeiten. weil erst sie uns dazu bringen, das land des lächelns auch dahin zu verschieben, wo selbst tagsüber kein licht brennt. wo sonnenaufgänge nur graue wolken in den morgen schmuggeln.

wahrscheinlich mag ich auch deswegen filme, in denen das unmögliche den ton angibt. filme wie lost in translation, bei dem es nicht darum geht, zu verstehen, was bob charlotte am ende ins ohr flüstert. sondern in dem es um all das geht, was nicht gesagt wird, was sich nur am mienenspiel und den kleinen gesten ablesen lässt. oder habitación en roma, der das zeitfenster auf eine einzige nacht beschränkt. und in dem die bezaubernde natasha yarovenko zwischen kopf und herz hin- und hergerissen ist (und deren lippen und das aufblitzen ihrer schneidezähne, wenn sie lächelt, mich an zungenschläge erinnern, die so bittersüß waren, dass ihr abdruck wie ein tattoo auf meinem mund haften blieb).

vielleicht ist das auch der grund, warum ich manchmal in ausgeschilderte fallen stolpere. warum ich warnzeichen übersehe und mich nackt in eiskaltes wasser stürze. weil ich an die tiefe wahrheit hinter solch trivialen sätzen glaube: machmal war das leben schön, voller überraschungen und ebenso sanft, wie es eine frau ab und zu sein kann, für so etwas, da muss man sich stets bereithalten.

und djian spart nicht mit solchen kalenderblattphilosophien. es sind simple sätze, die die leichtigkeit des seins nicht nur erträglich machen, sondern zu etwas lebens- und erstrebenswertem erklären: das leben ist voller kleinigkeiten, die einem das herz erwärmen, man muss nicht immer nach den sternen greifen. dafür braucht es kein abgeschlossenes philosophiestudium. und dennoch ist es gerade die unbefangenheit mit der djian erzählt – das lebendige und die gegenwartsbewusste sprache –, die seine erzählung nicht zur einer aneinanderreihung von erlebnissen degradiert, sondern aus ihr einen song macht, der knapp vierhundert seiten lang andauert.

dieses buch hat in mir die ahnung geweckt, zu was literatur fähig ist. wie wichtig stil ist. und wie sehr es ihn zu glätten, zu pflegen und immer wieder zu verbessern gilt. und es hat mir gezeigt, dass im leben andere dinge zählen als die üblichen konventionen und dogmen. dass in worten wahrheiten schlummern. und dass in ihnen möglichkeiten wohnen, mit denen die alltägliche tristesse in bunteren farben verziert werden kann. dass sinnlichkeiten und emotionen in jedem tag ruhen, bereit, mit nur einem handstreich aufgeweckt und ans tageslicht geführt zu werden.

manchmal, wenn man die augen schließt und das weiße rauschen gesellschaftlicher regelmäßigkeit ausblendet, dann ist alles, was noch von bedeutung ist, das gefühl, das durch das stetige schlagen deines herzens durch die blutbahn gescheucht wird. dann ist der reinste moment der, in dem du dir für dein mädchen den allerwertesten bis über beide ohren aufreißt. obwohl du genau weißt, dass sie dir irgendwann das genick brechen wird.

vielleicht ist es – neben der rasanz, mit der djian seinen erzählstil wie flirrenden jazz von seite zu seite treibt – die unbekümmertheit, mit der sein protagonist als der gegenentwurf eines modernen prinzen dasteht. mit leeren taschen und den kopf voller sorglosigkeit. aber wenn es um sein mädchen geht, ist er sich nicht zu schade, sie auf händen über glühende kohlen zu tragen. dann stellt er sich alles und jedem in den weg, um sie zu beschützen. schlussendlich sogar vor sich selbst.

was dann bleibt – und wie so oft unermüdlich im raum steht –, ist das résumé, das jede amour fou gleich einem schleier nach sich zieht: je verrückter eine liebe, desto größer das kopfkissen, mit dem sie am ende erstickt wird …

ps: als sich die letzten tage des vergangenen jahrtausends die klinke in die hand gaben, war ich auf einer lesung von philippe djian. es war die erste in deutschland. und ich idiot wollte ihm nicht das buch vor die nase halten, das er vierzehn jahre zuvor veröffentlicht hat. das als kultbuch bezeichnet wird und ihn wahrscheinlich bis heute verfolgt. das in nahezu jeder rezension seiner werke erwähnung findet. nein, ich wollte ihm meinen respekt zollen und legte das buch auf den tisch, aus dem er vorgelesen hatte, und wartete mit schweißnassen händen darauf, seine widmung entgegennehmen zu dürfen.

aber eines tages, wenn betty blue nur noch von klebestreifen zusammengehalten wird, mache ich mich wieder auf die reise. und lasse das buch signieren, das mich länger als irgendwas oder irgendwer begleitet hat.

betty blue

jahreswendenmanifest

da liegt sie nun, die nächste lieferung. die zweitauflage, in der die meisten fehler korrigiert sind. die sich ungleich vertrauter anfühlt. die längst ihr eigenleben entwickelt hat und so etwas wie ein zaghaftes ausatmen in sich trägt.

noch einmal blätterst du die seiten durch. begibst dich auf ziellose reisen, wanderst durch luftschlösser und gravierst dir falten auf die stirn. noch einmal trinkst du herzen leer und wehrst dich gegen kopfgewalten. noch einmal. und dann legst du all das zerdachte fangenspielen zur seite.

ein ungestümes jahr liegt nicht nur hinter dir, sondern mittlerweile auch zwischen zwei buchdeckeln. vielleicht war das die sinnvollste möglichkeit, um endlich einen schlussstrich zu ziehen. etwas hinter zeilen zu verstecken, das sich ja doch nicht erklären lässt. es in ein buch zu verbannen, das du einfach zuschlagen kannst, wenn es dir zu viel wird. und vielleicht ist es jetzt an der zeit, einfach mal die schnauze!!! zu halten und dich auf die dinge zu konzentrieren, die auch einen gegenwert haben. die nicht nur dann auf der bildfläche erscheinen, wenn es ihnen in den kram passt. und die sich wie muscheln verschließen, wenn du mal vergisst zu schweigen.

ja, vielleicht ist es an der zeit, manches in einen schuhkarton zu packen und ihn unter das bett zu stellen. dahin, wo man nicht so oft nachschaut. und den blick auf dinge zu richten, die eine zukunft in sich tragen. zum beispiel auf das unvollendete buch, das sich sechzig seiten lang von himbeerflecken ernährt hat und nun auf frische musenküsse wartet. oder das leben an sich, das endlich in die hand genommen und gegen jedes aufbäumen, jedes sich in den weg stellen und jegliche stimmen aus dem off beschützt werden will.

ja, vielleicht ist es an der zeit, es mit deinen fingern fest zu umschließen, dieses leben. es endlich mit stolzgeschwellter brust in die höhe zu strecken und pfade zu erschließen, auf denen deine fußspuren die ersten sind.

und denk dran, du besitzt jetzt eine brille. vielleicht hilft das, manches klarer zu sehen.