prosa wolken

Himmelsweh

Im Morgen treibt das Seitenblicken davon und allmählich lassen wir die Stimmen fortwehen. Dann ist da der kurze Rausch der glitzernden Splitter in deinen Augen, das Hängen in Gedankenlosigkeit und der Geschmack von Weinresten auf den frühen Stunden. Unsere freundschaftliche Distanz hat keinen Raum mehr. Und ohne weiteres Zögern greifen meine Lippen nach dir. Ich falle entlang deiner Zähne, aber dein Mund fängt mich auf, und ich verfange mich in dir.

Ich will dich nicht loslassen. Nicht jetzt. Ich will dich noch länger so spüren. Deinen flachen Atem an meinem Hals, den weichen Flaum in deinem Nacken, den warmen Taumel auf deiner Schulter, das Kribbeln deiner Hände, das Flehen deiner Haut. Ich will all das an mich reißen, es so fest an meine Brust pressen, dass mir davon die Luft ausgeht. Ich möchte dich nicht gehenlassen. Ich will diesen Abschied vermeiden, um nicht wieder an unvollendeten Geschichten schreiben zu müssen. Ich möchte keine Worte aufstellen, die Schwere zelebrieren. Keine Unmöglichkeiten hereintragen.

Also sag kein Wort mehr. Stell das Glas zur Seite. Gib mir deine Hand, leg sie in meine, lass mich nach deinen Haaren greifen, lass meine Finger durch deine Strähnen tändeln. Und lass uns diese Nacht so lange mit tanzenden Zungen verschleppen, bis wir uns nicht mehr wie kleine Kinder, die etwas angestellt haben, verstecken müssen.

Doch dann: Ein letzter Blick, die Tür schließt sich. Und zurück bleibt eine Frage: Wieviele Wahrheiten kann es geben, wenn jede richtig ist, doch keine der Realität entspricht?

Manchmal ist das Leben lautlos …

Unentschlossen siehst Du mich an. Das Kinn gesenkt, den Kopf auf Halbmast, aber den Blick in die Höhe gestreckt, mit weiten Augen und trauriger Stirn. Einzelne Sätze flattern wie versehrte Schmetterlinge aus Deinem Mund zu mir herüber.

Und mir schlottern die Knie. Diese unsäglichen Wellen setzen sich bis unter meine Kopfhaut fort. Ich möchte Dich festhalten, Dich an mich reißen, endlich all diese Störgeräusche vom Tisch fegen, mich in dir vergraben und mich bis in Deine Haarspitzen strecken.

Doch alles, was bleibt, ist dieses unsägliche Gefühl, manches einfach nicht mehr ungeschehen machen zu können. Und eine existenzielle Leere, die wie pechschwarze Wandfarbe daherkommt.

nachtdurst

Du wickelst meine Arme um dich. Zuerst nur lose, dann immer fester. Bis dir seufzend eine Handvoll Luft von den Lippen fällt. Ich fange sie auf. Lege sie in meinen Mund und der süße Geschmack von Himbeeren steigt mir in den Kopf.

Unter mir wandert dein Körper. Mit leichten Schritten fließt deine Haut entlang meiner Fingerkuppen. Und deine Wimpern winken, während sich dein Kopf dreht. Deine Wange lässt dabei eine Strähne fallen, dein Nacken schiebt sich nach oben und legt sich an mein Kinn. Der weiche Streifen unter deinem Ohrläppchen schiebt sich zwischen meine Zähne. Und der Abdruck, den sie hinterlassen, erinnert mich irgendwie an Gestern, als wir mit glänzenden Augen und feuchten Handflächen Erdbeeren geklaut haben.

Aber der Gedanke lässt mich nicht länger zu. Weil auf deinen Brüsten Schweißperlen warten. Und weil ich es mag, wie sie sich zurücklehnen, wenn du liegst. Und wie sie aufstehen, um zwischen meinen Händen zu spazieren. Wie sich das anfühlt, wenn sie lebendig werden. Gerade so, als würde man Inseln aufschütten.

Es gibt kein Kopfschütteln. Kein gleichgültiges Schulterzucken oder Davonlaufen. Nur ein stetiges Wiedersehen. Und vielleicht ein kurzes Innehalten, während dein Puls gegen meinen Körper klopft. Mal schiebe ich mich unter deine Fingernägel, mal tanze ich auf ihren Spitzen. Wir laufen alle Wege aneinander ab. Um uns zu vermessen, vielleicht auch zu kartographieren. Aber nicht in Metern. Nicht in Zentimetern. Nein, wir tasten uns Zelle für Zelle vorwärts. Weil wir Angst davor haben, dass es irgendwann zu Ende ist.

Vielleicht war es das einzige Mal, dass ich auch bei dir diese Angst gespürt habe.

Du hast mich aufgesaugt und ich bin tief in dich gefallen. Du hast mich in dich hineingeflochten, so wie man zwei Schnüre miteinander verbindet, die man nie wieder trennen will. Und dennoch ist da so etwas wie ein leichtes Unbehagen. Ein feiner Zweifel, der sich zwischen die Schulterblätter gesetzt hat und der weiß, was als nächstes kommt.

Aber ich will dieses Unbehagen nicht adoptieren. Ich will dich weiter mit mir tragen. Ohne Irreführung. Ohne das Gefühl, demnächst meine Zahnbürste wieder einpacken und die Tür ein letztes Mal hinter mir schließen zu müssen. Wenigstens für eine Zeit.

Ich lege mich in deinen Bauchnabel und versuche mich irgendwie an dir festzuhalten.

manchmal ist das leben laut

Alles ist Nebel. Ein Auflösungsprozess aus fein verteilten Wassertröpfchen. Und du tanzt im Dunst, langbeinig und eklektisch. Dann fallen die Dinge plötzlich aus der Welt.

Und so beginnt es.

 

– Hey, kommst du mit auf die Dachterrasse?

Die Luft ist stickig. Das Denken findet in einem kleinen, dunklen Raum statt, der überfüllt ist mit schweren Beats, schweißgetränkten Körpern und nichtssagenden Blicken. Kein Platz für Überlegungen. Vielleicht nur die nasse Spur an der Wand, die ein innerer Monolog wie ein glitschiger Fisch hinterlassen hat. Vielleicht nicht mal das.

Der Duft von Himbeeren strömt aus deiner Frage. Ohne nachzudenken folge ich dir. Dem Mädchen mit der Löwenmähne und dem Herzen eines Raubtiers.

 

Reden, wenn du magst. Ich nicke. Doch du schweigst. Mein Kopf ist der Aufwachraum. Und meine Gedanken ein einziges Neonflimmern. Dann sagst du diesen Satz, den ich erst sehr viel später verstehen werde. Versuch nicht, mich festzuhalten. Deine Beine baumeln über dem Abgrund. Mit beiden Armen stützt du dich ab. Wir sitzen auf der Mauer, die rund um die Dachterasse verläuft. Hinter uns liegt Stimmengemurmel und vor uns eine alles erschöpfende Dunkelheit. Ich denke, du bist vielleicht zu betrunken, zu aufgeputscht, du spielst vielleicht mit dem Gedanken, dich nach vorne zu lehnen und die drei Stockwerke nach unten zu sausen. Aber das ist es nicht. Du sitzt neben mir und starrst ohne ein weiteres Wort zu sagen in den tiefschwarzen Nachthimmel, der alle Sterne verschluckt zu haben scheint.

Noch weiß ich nichts über dich. Nichts. Aber das stört mich nicht. An deiner Seite zu sein und die Reste dieser Nacht einzuatmen, ist so viel wert wie das Lächeln einer Nymphe. Genauso vergänglich. Und genauso schön. Dann brichst du das Schweigen.

– Warum ist die Welt so scheiß normal?

Ich reiche dir den Joint. Irgendwo in weiter Ferne flackert ein winziger Lichtpunkt. Und etwas leuchtet für einen kurzen Moment auch in deinen Augen auf, während du mich fragend ansiehst. Dein Blick ist ein Fischernetz, das mich gefangen hält. Ich versuche nicht mal, dir zu entkommen.

– Das Leben ist ein Krokus. Etwas Sonne, etwas Schnee …

Du grinst, weil ich den Song kenne, ziehst die Nase hoch und wischst dir die letzten glitzernden Spuren weg, bevor du einen tiefen Zug nimmst.

– Ein Alptraum.

Du verdrehst deine Augen.

– Gestern, das war ein Alptraum. Komisches Zeugs. Keine Ahnung mehr, von wem das war. Aber heute ist es anders. Mit dir ist es anders, sagst du.

Wenn da eben noch ein leises Muster sich überschlagender Stimmen um uns herum war, eine Art kakophones Konzert alkoholgetränkter Sinnlosigkeiten, das rauschend aus dem Hintergrund an unseren Ohren knabberte, so ist da jetzt nur noch eine schmeichelnde Nachtstille, die aufgespalten wird durch unsere Sätze.

– Weißt du, woran ich gerade denken muss?

– Nein, tut mir leid, aber meine Hellseherfähigkeiten sind leider etwas eingeschränkt. Obwohl ich dreimal täglich mit verdeckten Karten übe …

– Schon mal von rhetorischen Fragen gehört?

Du lächelst. Und in deinem Lächeln steckt etwas, das mich nach mehr verlangen lässt.

– Ist das auch eine?

– Halt die Klappe! Und hör mir einfach zu.

Du sagst das mit einer Nonchalance, die mir jeden weiteren Kommentar mit liebenswürdiger Lässigkeit abwürgt.

– Wenn man dieser schmalen Linie dort hinten am Horizont folgt …

Du zeigst mit deinem rechten Zeigefinger geradeaus – mitten in das schwarze Nichts – und legst dabei deine andere Hand auf meinen Arm, was mir wie ein warmes Fluten durch die Adern gleitet.

– … dann ist das, als zerschneide sie zwei Blautöne, die dunkler nicht sein könnten. Ich meine, eigentlich ist das da vor uns doch nur ein einziges tiefes Schwarzblau. Und dennoch. Vielleicht auch nur, weil man weiß, wo der Horizont sein muss, sieht man diese Linie. Und wenn man sie erst mal sieht, dann zerfällt die einheitliche Dunkelheit und löst sich in zwei unterschiedliche Farbschichten auf. Siehst du, was ich meine?

– Du meinst, obwohl der Himmel jetzt nur noch eine Ahnung ist, hebt er sich von der starren Fläche unter ihm ab, wenn man genau genug hinsieht? Ist es das? Willst du mir sagen, dass der Himmel immer seine eigene Schattierung in sich trägt? Egal, wie finster es auch sein mag?

– Vielleicht. Ja, vielleicht wollte ich das sagen. Keine Ahnung. Es ist mir einfach nur aufgefallen.

– Nun, was auch immer das zu bedeuten hat. Aber es mag beruhigend sein, manches auch ohne Licht auseinander halten zu können, oder?

– Ja, irgendwie hast du recht. Auf gewisse Weise gibt einem das ein Gefühl von Sicherheit. Manchmal braucht es unverrückbare Konstanten, Dinge, nach denen man jederzeit greifen kann. Findest du nicht auch? Es scheint, als wäre das eine dieser Konstanten.

– Auf mich wirkst du eher wie jemand, der Konstanten lieber aus dem Weg geht.

– Oh, du willst mich doch nicht etwa mit deiner Menschenkenntnis beeindrucken, oder?

– Könnte ich das denn?

– Nein! Um mich zu beeindrucken, musst du dir schon was besseres einfallen lassen, Schätzchen.

– Ich könnte mit glühenden Kohlen jonglieren. Nur leider habe ich jetzt keine zur Hand …

– Auf lausige Zirkustricks falle ich nicht rein. Aber als Löwendompteur hättest du vielleicht eine Chance bei mir …

Und wieder ist da dieses Lächeln, das von den Mundwinkeln über die Wangen bis zu den Augen reicht. Ein Lächeln, das so weich ist wie ein Butterkuchen, und meinen Verstand mühelos in unzählige Einzelteile auflöst.

– Ein Dompteur? Ach, komm schon. Ich glaube nicht, dass du dich bändigen lässt. Ich habe dich unten auf der Tanzfläche gesehen. Deine Bewegungen waren ein einziges Manifest für Freiheit und Lebenslust.

– Hast du mich etwa beim Tanzen beobachtet?

– Hatte ich denn eine andere Wahl? Du hast schließlich die gesamte Tanzfläche in Brand gesteckt. Ehrlich, was kann anziehender sein, als eine Frau, die so selbstbewusst mit ihrem Körper umgeht? Man spürt, wie sehr es dir gefällt, dich zu bewegen. Und der fließende Rhythmus deiner Hüften raubt einem einfach den Atem. Das ist viel zu schön, um die Augen davor zu verschließen.

– Nun übertreib mal nicht so maßlos. Du sagst das doch nur, weil du glaubst, mir damit ein Kompliment machen zu können.

– Komplimente sind doch nichts anderes als kleine Lügen. Ich sage nur die Wahrheit.

– Lass es mich wissen, wenn du noch mehr solcher Wahrheiten parat hast. Aber komm mir jetzt nicht mit meinen ach so schönen Augen oder irgendwelchen anderen Plattitüden.

– Ich glaube, du bist jemand, der sich nichts aus Konventionen macht. Immerhin hast du mich angesprochen. Du hast wahrscheinlich schon als kleines Kind überall deinen eigenen Weg gesucht und bist dafür abwechselnd geliebt und gehasst worden. Mir gefällt so etwas mindestens genauso gut wie deine wunderschönen langen Beine, die sich bis in den Himmel schrauben. Aber ich muss schon sagen, deine grünen Raubtieraugen sind wirklich bildhübsch. Stehen dir ausgesprochen gut.

Meine Stimme pendelt von Ernsthaftigkeit hin zu einem ironischen Unterton. Ich hoffe, du verstehst, dass ich dich mit den Floskeln nur necken will.

– Oh je, da war er wieder … der Versuch mit Menschenkenntnis zu beeindrucken. Und dann auch noch diese Grußkarten-Komplimente. Du weißt wohl, was Frauen hören wollen, Schätzchen.

Du lachst und beugst dich dabei ein wenig zu mir rüber, gerade soweit, dass sich unsere Schultern berühren. Und dann fängt das Grün deiner Augen wieder zu leuchten an.

– Ich könnte dir jetzt sagen, ich habe dich angesprochen, weil ich nicht zu den Frauen gehöre, die ewig darauf warten wollen bis die Welt endlich zu ihnen kommt. Das würde doch deinem Bild von mir entsprechen, oder? Aber ganz ehrlich … ich habe dich im Halbdunkeln nur mit jemandem verwechselt.

Auch ohne das Grinsen, mit dem du das sagst, hätte ich diesen Satz ohne ein Murren angenommen.

– Ich kann mit Zufälligkeiten ganz gut leben. Das Schicksal ist eine alte versoffene Hure, aber der Zufall so weich wie der Schoß einer Jungfrau.

– Und was meinst du, wo uns dieser Zufall hinführt?

– Willst du das wirklich wissen?

– Nein, aber du siehst mir wie jemand aus, der versucht, immer zwei Schritte voraus zu denken, damit er für alle Eventualitäten gerüstet ist.

– Oh, jetzt also die Retourkutsche. Ich werde auch mit einer Portion Menschenkenntnis bedacht.

– Habe ich denn ins Schwarze getroffen?

– Wenn die Tatsache, dass ich dich wiedersehen will, auch dazu gehört, dann war das ein Volltreffer.

– Du siehst mich doch hier und jetzt. Reicht dir das etwa nicht?

Wie kann mir das reichen, wenn ich bereits seit deinem ersten Lächeln süchtig nach dir bin? Aber ich schlucke diese Frage wieder runter, bevor sie mir aus dem Mund kriecht.

 

Kleines, ich kenne dich überhaupt nicht. Und dennoch kommt es mir so vor, als sei ich bereits seit Jahren in dich verliebt. Irgendwie ist das ja eigenartig, aber all das fühlt sich nicht nach einem Kennenlernen, sondern nach einem Wiedersehen an. Wer weiß, vielleicht waren wir schon einmal hier. Wenn auch nur in Gedanken.

Die Zeit davor. Und die danach.

 

Die Verschiebung beginnt nicht unerwartet. Die Gewissheit, dass es so kommen muss, lag von Anfang an zwischen uns. Ein kurzes Zögern. Ein tiefes Blicken. Dann falle ich.

In deinen Kuss.

Ich schiebe meine Zunge an deinem Atem vorbei, laufe durch die Wodkareste. Vorbei an deinen Zähnen, die stumpf sind von der Nacht und den vielen Zigaretten. Dein Geschmack ist zuerst weich und hell. Aber je mehr ich von dir abtaste, je tiefer ich mich in deinen Speichel schiebe, desto schwerer wird er. Tiefes Himbeerrot wechselt sich mit rosafarbenen Wolken ab. Und wenn die Wolken im Mund aufplatzen, ist es als beiße ich auf Zuckerkristalle.

Und überall ist dieser feine Staub, der sich verteilt und wie spiralförmige Elektrobeats den Puls taktet. Ein einziges Herzreisen, ausgelöst durch das fließende Wandern deiner Lippen.

 

– Sag jetzt nichts mehr, halt einfach nur meine Hand fest. Ja, so ist es gut. Und meinen Kopf – es macht dir doch nichts aus, oder? – den leg ich auf deine Schulter. Miau. Vielleicht bist du wirklich ein Löwendompteur …

Auf einmal bist du zutraulich. Ein kleines, verschmustes Kätzchen, das seine Krallen eingezogen hat. Wenn auch nur für einen Moment. Und wahrscheinlich liegt es am Alkohol oder am Joint oder an der Kombination aus beidem, aber ja, du schnurrst. Ich kann‘s nicht hören. Aber es ist da.

Ich fühle es.

 

Du blinzelst in der aufgehenden Sonne. Wie feiner Puder sind ein paar Wolkenfetzen über dem orangefarbenen Erwachen des Tages verteilt. Ein letztes Mal gibst du mir einen Kuss, dann läufst du davon.

– Sag mir wenigstens deinen Namen, rufe ich dir hinterher.

– Nenn mich Nika. Das gefällt mir irgendwie.

– Sehe ich dich wieder … Nika?

Du drehst dich nicht mal um. Meine Frage bleibt wie ein Flehen zurück. Deine spitzen Absätze klackern über den Asphalt und deine Bewegung ist ein einziges sanftes Flüchten.

 

Die Stille des Morgens verläuft sich zwischen den aufgereihten Betonblüten, in denen noch die letzten Reste von Schlaf wie Tapeten an den Wänden kleben. Und ich werde auf gestreckten Lichtbögen nach Hause getragen. Wie von selbst setzen sich meine Schritte zu einem ungezwungenen Mosaik zusammen.

Und wie von selbst hinterlassen deine Spuren knallbunte Wasserfarbentropfen auf den Pflastersteinen, die mich erahnen lassen, dass sich von nun an alles anders anfühlen wird.

brave new world

Eine Welt, die von einem auf den anderen Tag ihrer gewohnten Konturen beraubt wurde. Die plötzlich nur noch verwaschen vor den Augen schimmert, gleichgeschaltet und graugespült. Eine Welt, in der das Zerdenken von Unvorhersehbarem zur neuen Maxime erklärt wird.

In dieser neuen Welt soll Flucht nicht Schwäche, sondern Stärke sein. In ihr wird der Abbau zelebriert und ständig zündet irgendwo ein Feuerwerk, weil wieder ein Mauerstein entfernt wurde. Hier ist die Nacht nicht schwarz. Hier leuchtet sie in absurden Farben und trägt den Wahnsinn auf die Netzhaut.

Aber ohne Konturen gibt es keine Leitmotive, gibt es keinen Halt, gibt es nichts. Wer hier springt, stürzt ins Bodenlose. Mit jeder Vorwärtsbewegung tritt man weiter auf der Stelle, weil es keine Bezugspunkte mehr gibt, weil sich jede Räumlichkeit ohne Umrisse irgendwann selbst als Hirngespinst entlarvt.

am rand blau

Wir laufen durch leuchtenden Milchschaum, ich male Herzen in die Luft, sorgenfrei und verliebt, und sie, sie fetzt Wolken in den Himmel, feine Haarsträhnen aus Sprühsahne, ihre Augen sind spiegelndes Glas, zwei schimmernde Perlen, in denen Regenbögen wohnen, ihr Lachen ist heute noch ansteckender, butterweich und gelb wie eine Honigmelone, das Sonnenfluten fällt in Kaskaden in den aufsteigenden Tag, und ihre Stimme ist eine schwebende Melodie, in der aus allen Worten, die aneinandergereiht durch die Stunden pendeln, violettblauer Lavendelduft strömt, bis unseren Gedanken Flügel wachsen und wir die unbezwingbaren Helden in einer Stadt aus Glas sind.

Mit aufrichtigen Liebesschwüren im Gepäck segeln wir auf das offene Meer, federleichte Küsse sind unsere einzige Wegzehrung, unsere Lungen sind wie Wachs, und der Geschmack des Feuers liegt auf unseren Zungen, die ausgehöhlten Linien am Horizont und das Flimmern von Texturen und Schatten warten auf uns, und das krachende Aufschlagen von fragilen Wellen, vielleicht hilft es, die Übergänge zu löschen, vielleicht hilft es, Utopien aufzurichten, sie wie Segel in den Wind zu hissen, straff und mit dem richtigen Einfallswinkel, um dem Unausweichlichen zu entkommen, vielleicht hilft es, den Fischen zu vertrauen, die aus dem Wasser springen, die zerbrechliche Oberfläche zerteilen und wieder in der Tiefe verschwinden, vielleicht, ja vielleicht haben wir an diesem Tag die Chance, die Welt anzuhalten und sie in die andere Richtung drehen zu lassen, vielleicht, wenn wir zusammen die Hände ins Wasser halten, vielleicht können wir den Lauf der Dinge anhalten, vielleicht können wir weiße Quarktupfer in den Ozean aus zartrosa gefärbtem Wahnsinn hauchen, vielleicht können wir uns unsterblich machen, wenn wir Freudentränen in Taschen verpacken und sie an Wolken verteilen.

Aber in diesem Moment, in dem zwischen A. und mir alles makellos ist, spüre ich, dass sie die Sonne ist. Und dass diese Sonne irgendwann verglühen wird.

i hope you don’t mind

„ich weiß, du hast gerade keinen blick dafür … und vielleicht geht es auch nur mir so … aber irgendwas mauvefarbenes schimmert hinter dem nachthimmel. keine ahnung, was das ist, aber es sieht aus, als würde ein kleiner junge unter einer dunkelblauen decke mit einer taschenlampe hantieren. keine sterne. nichts. aber das firmament scheint zu glühen, ganz sanft … wie die leicht geröteten wangen einer hübschen frau. das ist fast so, als könne man die gesamte endlichkeit des universums spüren, die hinter allem liegt und leise atmet …“

in luftscheuen falten verfangen

siehst du, wie die bäume allmählich ihren sommer verlieren? unsere stadt ist milch, ist honig. die sonne schwimmt und du hörst: ein krächzen. es hängt da – als laubloses verwirbeln.

ich sehe dich. wie du da sitzt: ein heimwenden, ein vogelfliehen. hingegossen vom wind. und deine langen haare, die über deine schultern wasserfallen.

das brausen in den ohren, das pochen in der lücke. gegen blau hilft kein schlaf. du weißt: hier ist kein tag. nur ein oktober, ein einsames zwillingskind – ohne post von gestern.

der herbst hat’s gefressen. schau dich um: anstand verwirrt, die straßenfäden bündeln sich. und die schatten klauben den lärm mit rostroten händen.

letzte blumen, im rücken ein stechen. die haltung: ein unbekannter ort. hier ist stein nicht stein. alles zerbricht, glas zerfällt. du nickst – und die erntekrätze liebkost die trümmer.

wie du verschwindest. ich kann es sehen. auflösung bis hin zum rockzipfel. du fällst in dein nicken, dein herz verpumpt sich. ein einsamer schluckauf – ohne rascheln, ohne finale rettungsskizze. kein klirren als das nichts aufschlägt. kein leerer hut, der zu boden fällt. nur eine unsichtbare lippenbewegung und ein kleiner riss im licht. ein leichtes husten, dann hat die luft dich verschluckt.

wir blinzeln kurz, als wir das vakuum verlassen

ein aufgebrauchter takt, ein schneller blick auf die wunde und dann eine stille, die sich zwischen unerreichten orten spannt. ihr gesicht ist ein leerer fleck. dunkel und müde. nur kann er das nicht sehen. weil er noch auf den einschlag wartet. mit gesenkten lidern und dem kopf zwischen zu engen wänden.

er hat sich an der trägheit des abends irgendwie die lippen aufgeschlagen. und jetzt knallt auch noch das pudrige licht seiner fragen in den raum. mit einer kraft, die ihr die müdigkeit aus den augen reißt.

weißt du denn: wie geduld schmeckt? welche farbe sehnsucht hat? wie lange zu lang ist? und ob man damit einmal um die erde kommt oder nur bis zur nächsten straßenecke? wie laut schlaflosigkeit ist? nach was vorfreude riecht? und mit welchem schwarz die nächte gestrichen sind? ob man gedanken berühren kann? und wie oft man das wort struktur buchstabieren muss, bis man es spürt? welches gewicht ein tiefes seufzen hat? wann sich fragen abnutzen? und woran?

zwischenwelt

stell dir einen ort vor, an dem die jahreszeiten nicht an bäumen wachsen. an dem wetterwarnungen an grauen vormittagen von rotweinleichen verschluckt werden. und herzgeschwächte idioten in metaphern leben. ein ort, an dem murakami deine träume schreibt und dich nicht mehr aufwachen lässt.

dieser ort nennt sich zwischenwelt. er beginnt dort, wo die realität aufhört und erstreckt sich bis an die weite grenze deines unterbewusstseins. hier herrscht seelenlose zeitlosigkeit. eingefärbt in das taubengraue gähnen der immerwährenden regenwolken, aus denen sich lang gezogene regentropfen wie im zeitraffer auf die erde strecken.

am rande der verlorenen stunden richtet sich ein zauberwürfel in die dunkelheit. ein schwarz glänzender kubus, geformt aus lichtschluckenden flächen. seine kanten bohren sich bis weit in die wolkendecke, so dass es den anschein hat, als sei er von zwei entgegenliegenden ebenen eingefasst. dem nassen asphalthimmel unter und dem schweren regenmeer über ihm.

vor dem quadratischen eingang des würfels stehen stämmige wächter in schlecht sitzenden anzügen, die jeden besucher geringschätzig von oben bis unten mustern. die stolzen einhörner, die das einzige licht dieser welt in sich tragen, winken sie ohne jeden kommentar durch. aber bei allen idioten, die aus der zwischenwelt in das echo des würfels stolpern wollen, klatschen sie sich belustigt auf die breiten oberschenkel und gewähren nur denen einlass, die die dunkelsten schatten hinter sich hertragen.

ich folge den stufen und betrete den von gelbem lichtpulver nur schwach ausgeleuchteten vorraum. noch bevor das mädchen an der kasse etwas sagen kann, hole ich die schwarze clubkarte hervor. sie blickt nur kurz auf das scheckkartengroße etwas und drückt den stempel schmatzend in das nasse stempelkissen. ich krempele mein hemd etwas hoch, strecke ihr meinen rechten unterarm entgegen und lasse mir einen schwall erinnerungen auf die fläche direkt unter dem handballen stempeln. da, wo eine blaue ader zwei hervorstehende sehnen kreuzt, fließt aus den zerrissenen konturen des würfelförmigen abdrucks ein monoton klopfendes geflecht aus verwaschenen bildern meinen arm hinauf, greift mit kalter hand um meinen herzmuskel und strömt durch die weitverzweigten verästelungen der aterien bis in die herzfernsten regionen meines körpers.

– deine träume musst du oben an der garderobe abgeben. aber das weißt du sicherlich.

ich nicke kurz. das stete fluten der erinnerungen sticht in den schläfen. ich verspüre das anstürmen eines leichten schwindelgefühls. und dennoch gehe ich auf die steile treppe zu, an deren ende eine schwere tür das wummern zurückhält. noch einmal drehe ich mich um. der blick des mädchens haftet sich an meine augen und tonlos klettert ein satz über ihre lippen. obwohl ich ihn nicht hören kann, legt er sich wachswarm in meine ohren. no more tears, my heart is dry.

kaum dass ich die tür öffne, stampfen die schweren rhythmen über den boden und kriechen durch meine fußsohlen. sie wandern die beine hinauf – wie glucksender schluckauf – und legen sich bleiern in meine magengrube. doch da muss ich jetzt erst mal durch. das seelenschleifende stampfen verlangsamt meine schritte, aber es hält mich nicht auf. ich wehre mich gegen das träge zupacken, und gehe auf die garderobe zu, um meine träume abzugeben. ich weiß genau, würde ich das nicht machen, verlöre ich über kurz oder lang den verstand. und wer in würfeln seinen verstand verliert, der wird ihn nicht mehr wiederfinden. das ist eines dieser ungeschrieben gesetze, die für alle idioten gelten, die sich in zwischenwelten aufhalten.

meine träume zappeln wie gestrandete fische als ich sie aus der jackentasche hervorhole und auf die ablage vor der garderobe lege. das mädchen, das meine träume in einen weißen stoffsack packt und ihn an einen der unzähligen nägel an der wand hinter sich hängt, sieht genauso aus wie das mädchen unten an der kasse. das gleiche wallende haar, das sich schwarz auf die schmalen schultern legt. die gleichen braunen rehaugen, die gleichen vollen lippen, die gleiche spitze nase. das gleiche schwarze hemd, von dem die ersten drei knöpfe offen stehen. ich frage mich, wie das sein kann und komme zu dem schluss, dass es sich um zwillingsschwestern handeln muss.

sie schiebt mir über die ablage eine längliche karte aus schwerem karton zu, auf dem die nummer 11-12-10 steht. die kanten sind abgewetzt, die zwölf etwas brüchig, der farbauftrag nicht mehr an allen stellen gleichmäßig, so dass die lettern aussehen wie verwitterte grabinschriften. bevor ich die karte einstecke, lasse ich sie durch die finger gleiten, streife mit den fingerkuppen über die ränder und ziffern. ich schaue auf meinen daumen, will sehen, ob die druckerschwärze abfärbt, aber auf dem daumen ist nichts zu sehen. dann drehe ich die karte um – weniger aus neugier als vielmehr aus reiner zufälligkeit. zuerst scheint die rückseite leer, doch sobald ich sie in dem fahlen licht etwas neige, glaube ich eine feine schrift zu erkennen: i don’t laugh and i don’t cry.

aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. denn hier scheint manchmal alles möglich zu sein. ich stecke die karte ein. keine zeit für überlegungen. keine zeit für trockenes nachdenken. meine augen verengen sich zu schmalen schlitzen, dann gehe ich quer über die tanzfläche, zwänge mich durch die zuckende masse, die ekstatisch das graue leben von sich schüttelt und grüße mit kaum wahrnehmbarem kopfnicken ein paar bekannte gesichter, die links und rechts ihr bescheuertes grinsen in das gewitter aus lichteffekten werfen.

an der bar bestelle ich ein glas flüssiger erinnerungen, einen wodka red-bull. ich versuche mir die farben und konturen zurückzusaufen, um die verblassten bilder mit leben zu füllen. und irgendein blondes gör, das viel zu jung ist, um so aufgedonnert durch die nacht zu mäandern, reibt mit jeder tanzbewegung ihren hintern an meiner hüfte. aber mit all den sehnsuchtsflecken im nacken, die mich noch immer lautlos aufschreien lassen, drehe ich mich weg. weg von dem aufgesetzten irrsinnskitsch und bestelle einen zweiten wodka energy, nachdem ich den ersten in einem zug geleert habe. ich bleibe an der bar stehen, ohne mich dafür zu interessieren, was um mich herum geschieht. es folgen noch drei weitere drinks, bevor mich die rauschhafte wärme auf eines der sofas trägt, die rings um die tanzfläche stehen.

da sitze ich und kratzte mit meinen blicken die erinnerungen von den wänden. da, wo sich ihre beine wie schraubstöcke in den himmel gebohrt haben. da, wo ihr lächeln zwischen longdrinks und eiswürfeln die nacht in glitzernde scheiben geschnitten hat. da greife ich nach meinem handy, überlege, soweit es mein von alkohol und bitterkeit geschwächter zustand noch zulässt, ob ich mich der lächerlichkeit preisgeben soll. aber da ich meine träume an der garderobe abgegeben habe, verläuft sich der gedanke zwischen den fragwürdigen schattierungen, die über die wände huschen. und die hand, die das handy in der hosentasche fest umschlossen hat, löst sich wieder.

unsere herzschläge waren heldenklänge. metallisch grün schimmernde kolibris, die im beat der winterlaune mit ihren flügelschlägen so etwas wie gedankenlosen wahnsinn in die luftlöcher getrieben haben. und unsere lippen waren zwei wilde tiere, die von einsamkeit und vorsicht getrieben aufeinander zu gerannt sind. im fallen haben wir das leben kennengelernt, aber beim aufschlagen unser lächeln verloren.

unvermittelt beginnen die alten konturen wieder zu leuchten. das rückläufige denken spult sich nun quietschbunt vor meinen augen ab. was dazu führt, dass der arsch einer göttin wie eine nebelwolke vor mir auftaucht und unablässig vor mir hin und her wackelt. ich strecke die hände aus, um sie zu mir zu ziehen. aber sobald ich ihren po berühre, tanzt sie einen schritt von mir weg. und bewegt sich im nächsten moment wieder auf mich zu. eine verführung ohne happy end. ein gleichzeitiges wegstoßen und festhalten. ich bekomme einen private lap dance aus zähflüssiger erinnerung mitten in der tiefschwarzen tönung des elektronischen soundgewitters präsentiert.

erschöpft senken sich meine lider. ich versuche hinter der dünnen hautschicht ein versteck zu finden, das mich vor den weichen bewegungen ihres körpers bewahrt. aber da ist nichts, was mir die bilder nehmen könnte. nichts, was dieses lächeln und die halbgeöffneten lippen verschwinden lassen könnte.

das gefühl, einen tiefen biss zwischen den schulterblättern zu spüren, reißt mich aus meinem flashback. ich öffne die augen, und vor mir sehe ich nur noch die wabernde masse, den schemenhaften gleichklang, aber nicht mehr ihre schillernde silhouette. das lässt mich ausatmen. zumindest für den bruchteil einiger sekunden. dann stößt mir das mädchen neben mir ihren ellenbogen in die seite. ich drehe den kopf zur seite und blicke in zwei weit aufgerissene augen. das mädchen von der kasse. oder ihre zwillingsschwester von der garderobe. sie prostet mir lächelnd mit ihrem longdrinkglas zu.

– wer bist du? das kassenmädchen? oder die traumbewahrerin?

ihr lächeln bricht wie ein kartenhaus in sich zusammen. sie senkt ihr glas und entlang ihrer stirn laufen verwirrte falten.

– oder seid ihr etwa drillinge?

– redest du frauen immer mit so einem blödsinn an? ist das deine masche?

– entschuldige, ich dachte nur, ich hätte dich schon einmal gesehen.

das ist aber nun wirklich eine masche!

und dabei glättet sich ihre stirn wieder und ein austauschbares grinsen huscht über ihren mund.

– nenn es wie du willst. es ist auch nicht weiter wichtig.

sie bewegt ihren mund. aber zwischen all den stampfenden rhythmen kann ich sie nicht verstehen. ich kann ihr nur die worte von den lippen sammeln und sie in meinem kopf wieder zusammensetzen: i don’t think about you all the time, but when i do, i wonder why.

die kubische modifikation des kohlenstoffs ist ja auch so eine sache. wegen der hohen lichtbrechung spielen einem die augen dann schon mal einen streich. da passiert es schnell, dass die wahrnehmung in tagträumen baden geht. und dass das unbezwingbare funkeln eines diamanten einem in die handflächen schneidet, ohne dabei auch nur einen tropfen blut zu vergießen. egal, mach deinen kopf weit auf. denn:

es muss nicht immer ein diamant sein … das hat mir mal jemand gesagt. aber heute nacht funkeln die glasscherben nur matt im laternenlicht. und all das vergessenwollen, abhaken und nachvornerichten stößt mir sauer auf. es wildert in meiner kehle. vielleicht auch, weil ich mittlerweile aus dem würfel hinausgelaufen bin und nun auf dem bürgersteig stehe, meine träume wieder in den taschen spüre und mit zerzaustem haar in richtung unendlichkeit blicke und mich frage, ob es jetzt schicksalsgleich wäre, wenn ich gegen den wind kotzen würde.

aber anstatt all das milchwarme übelsein dieser nacht wie windscheibenfliegen an meiner jacke kleben zu lassen, schlucke ich das pochen zurück in den tiefen graben meines magens. und anstatt mich von fliegenden frauen durch die nacht tragen zu lassen, will ich lieber das nachtleben hinter mir lassen und nach hause gehen. ich sortiere meine schritte, will sie so zusammensetzen, dass sie mich nach hause tragen. doch da bricht ein lautes halt! aus der dunkelheit und hält meinen aufbruch mit kühler faust umschlossen.

ein mann von vielleicht vierzig oder fünfzig jahren bewegt sich direkt auf mich zu. er trägt einen knallroten wams, der in brusthöhe mit einer knopfleiste versehen ist, wattierte ärmel mit einem weißen saum am abschluss, als beinkleid eine helle heerpauke, die etwa bis zur hälfte der oberschenkel reicht, weiße strumpfhosen und schwarze reitstiefel. und um das lächerliche kostüm noch zu übertreffen, sitzt auf seiner schulter eine schwarze katze, deren grüne augen wie zwei smaragde aufblitzen.

– wer sind sie?

– ich bin der baron.

– der baron?

– ja, baron de ley. aber alle nennen mich nur baron.

– wohl eher baron münchhausen …

– papperlapapp!

– und warum tragen sie eine schwarze katze auf der schulter?

– ach das, das ist holly golightly, sie wacht über die träume.

das alles ist so schwachsinnig, dass ich gar nicht weiß, wo ich ansetzen soll. der katze hingegen scheint das geschwätz des barons egal zu sein. sie schnurrt zufrieden. ein tiefer, rollender ton, der so unwirklich und zugleich beruhigend durch die nacht streift, dass ich das wirre schauspiel weiter zulasse.

– sie ist was? eine traumwächterin? und du nennst sie holly golightly? wie in der erzählung von capote? das ist ein schlechter scherz, oder?

– was glaubst du wohl? würde holly nicht über die träume wachen, dann würden sich idioten wie du in ihnen verlaufen und nie mehr aufwachen. es gibt da diese schmale grenze, an der sich morgens – im wahrsten sinne! – die geister scheiden. und wenn du die einmal überschritten hast, gibt es kein zurück mehr. deswegen reißt dich holly jeden morgen, bevor du dem wahnsinn verfällst, aus deinen träumen.

der baron macht eine kurze pause, in der er den kopf kurz zu der katze dreht, und fährt dann fort:

– und den namen habe nicht ich ihr gegeben. das war sie selbst. ich nenne sie eigentlich nur katze. denn was anderes ist sie denn? aber madame ist eigen. und manchmal sehr exzentrisch.

– vielleicht sollte ich froh sein, dass es typen gibt, die noch weitaus bekloppter sind als ich selbst …

– mir ist schon klar, dass du mich wohl für ziemlich durchgedreht hältst. an deiner stelle würde ich das wahrscheinlich auch tun. aber lass mich dir wenigstens eins mit auf den weg geben.

– willst du mir nun erzählen, dass die wahrheit nur eine einzige illusion ist, ein bewegliches heer von metaphern, metonymien und anthropomorphismen?

– nein, das ist deine welt. aber das, was ich dir zu sagen habe, ist viel einfacher. ich will dir nur einen gut gemeinten rat geben! trag deine träume nicht in deinen taschen. dort verfaulen sie. wirf sie in die luft, sieh zu wie ihnen flügel wachsen, wie sie sich in den himmel erheben und mit ihren lautlosen flügelschlägen die wolken aufbrechen. sieh ihnen zu, wie sie davonfliegen. sieh ihnen zu. aber renne ihnen nicht hinterher! einige wirst du nie wiedersehen. sie sind es nicht wert, weitere gedanken an sie zu verschwenden. aber andere werden irgendwann zu dir zurückkehren. ihr gefieder wird sich im lauf der langen reise bunt gefärbt haben und sie werden auf eine staatliche größe angewachsen sein. sie werden so stark sein, dass sie dich auf ihren rücken an jeden ort tragen können, den du dir nur vorstellen kannst.

– ist das nicht ein bisschen arg kitschig?

– es liegt an dir, was du aus dem machst, was ich dir gesagt habe. nenn es kitsch. nenn es schwachsinn. nenn es das sinnlose geschwätz eines übergeschnappten trottels, der in einem kostüm zu dieser uhrzeit um die häuser schleicht. aber tief in deinem herzen, weißt du, dass ich recht habe.

ich fasse mir an den kopf. weil da dieses gefühl von verzerrten realitäten hinter der stirn purzelbäume schlägt. und weil die fehlende kognitive kontrolle meine wahrnehmung in unverdauliche häppchen zerteilt, die mir wie steine von den schultern rollen und drohen, mein rückgrat zu zermalmen.

das alles will ich zerdenken und hinter nebelbänken verstecken. ich will nicht länger diesen kreis um mich spüren, der sich mit jedem aufwachen enger um mich zieht. ich will nicht mehr das kratzen im hals spüren, wenn ich mich an all den erinnerungen verschlucke. ich will nur noch schlafen und so etwas wie eine auflösung spüren. ein tiefes zerfließen, das meine moleküle von den dingen befreit, die sich wie raubtierkrallen in meinem nacken verankert haben.

ich greife in die innentasche meiner jacke. da irgendwo muss noch ein päckchen zigaretten zu finden sein. ich suche erst links, dann rechts und finde irgendwann das zerdrückte päkchen mit den letzten beiden zigaretten. genauso unvollkommen wie eine laufmasche, denke ich. aber jetzt und hier werden keine umwege eingelegt, um strumpfhosen auszuziehen und in hautenge jeans zu schlüpfen. jetzt ist der geradeste weg der kürzeste. und der führt aus der zwischenwelt hinaus. mit leerem kopf und einer kippe im mundwinkel.

kosmonauten sind der letzte scheiß. wie sie durch den zigarettennebel schweben. mit diesem bescheuerten grinsen, das sich hinter dem verspiegelten visier in einsamkeit auflöst. wie sie mit ihren klobigen gliedmaßen auf der resterampe des universums gegen mikrometeoriten kämpfen. diese eingepackten königskinder, die im luftleeren vergessen ihre würde an leuchtende gaskugeln verschenken.

der letzte scheiß, wiederholt er und bläst dabei den rauch gegen die zimmerdecke. seine schwarz umrandeten augen werfen ausgebrannte partylaunen in die zimmerecken. aber davon lässt er sich nicht ablenken. nicht davon. er schenkt sich wodka nach und schreibt weiter. von rätseln ohne lösung. von blutleeren versprechungen. und von all den dingen, die im mondschein über den asphalt wandeln. und dann ist es die jahreszeitenwende, die das fenster öffnet und frische luft in den nach abgestandenem wasser riechenden raum weht.

ich stehe am offenen fenster und versuche etwas zu fixieren, das in weiter ferne liegt. etwas, das irgendwo hinter der dunkelheit so etwas wie ein schwaches leuchten von sich gibt. und im schwachen schein des mondes steckt die ahnung eines lächelns. zumindest bin ich mir dessen sicher, weil sich meine nackenhaare vor lauter staunen wie eine winzige armee aufrichten und einen wohligen schauer über den rücken jagen. doch trotz des lächelns ist es traurigkeit, die mir aus den augen rinnt und an den wangen entlang klettert. eine traurigkeit, die vielleicht noch von den zerplatzten träumen genährt wird, die ich nach wie vor noch immer in den taschen trage.

doch plötzlich legt sie von hinten ihre arme um mich. ich erschrecke ein wenig, weil ich mit meinen gedanken auf einer reise durch die nacht war. weil ich überall war. nur nicht hier. nicht bei ihr.

– deine gedanken, wo sind sie?

– …

– oder sollte ich fragen, bei wem?

– was meinst du?

– du bist hier. verdammt, ich kann dich sehen, ich kann dich spüren. aber da oben, da bist du ganz woanders. nur nicht hier. nicht bei mir.

– entschuldige, nadja.

– nina.

– bitte?

– ich heiße nina …

ich gebe ihr einen langen kuss. ein kuss der nach einer mischung aus rotwein, bier, zigaretten und sehnsucht schmeckt. aber ob dazwischen noch andere nuancen sind, die vielleicht nach mehr schmecken, nach etwas, das sich nicht beschreiben lässt, etwas, das sich anfühlt wie verwundete worte, die auf der zunge ins stocken geraten sind, das kann ich nicht sagen. weil in meinem mund ein taubes gefühl umherschleicht. und weil ich sie, um all die wirren überlegungen im keim zu ersticken, an der hand nehme und ins schlafzimmer ziehe.

– küss mir eine frage auf die handfläche. dann frag mich noch einmal, vielleicht mit deinen fingerspitzen. vielleicht auch mit der sanften bewegung deiner hüften.

– und dann?

und dann? keine ahnung. atme mich ein. verschluck mich mit deinen augen. oder lass mich zwischen deinen beinen verschwinden. wahrscheinlich werden heute weder blutegel noch sardinen vom himmel fallen. aber das soll kein grund sein, nicht doch an wunder zu glauben …

– ich glaube an wunder. und ich glaube an dich! komm her. ich will dich fühlen. ich will, dass du kopfüber in mich eintauchst und komplett von mir besitz ergreifst. ich will, dass sich dein kopf leert, wenn ich dich aussauge. dass sich alles gestern in mir in ein morgen auflöst. in etwas, das den funken von zukunft in sich trägt. und mit jedem aufseufzen, das durch meinen körper strömt, möchte ich dieser möglichkeit ein stückchen näher kommen.

du liegst. und du wanderst. deine brüste spazieren zwischen meinen händen, deine haut fließt entlang meiner fingerkuppen, alles fleisch ist in bewegung und wir rennen ineinander, bleiben kurz stehen – nur um mit leichten schritten weiterzulaufen, zwischendurch zu rennen und die richtung zu ändern. mal schließen sich deine augen, mal bohren sie sich in meine blicke, mal schiebe ich mich unter deine fingernägel, mal tanze ich auf ihren spitzen. alles ist jetzt. und jetzt ist alles. dennoch rast noch etwas anderes mit wehenden fahnen durch meine bewegungen. etwas, das nicht hierher gehört. das sich grimassenhaft auf mein gesicht legt. und dir tiefe falten in die stirn gräbt, die lautlose fragezeichen in den raum werfen.

– warum kannst du sie nicht vergessen? warum? genüge ich dir etwa nicht?

noch immer sind ihre wangen leicht gerötet von all dem fiebrigen stöhnen, das eine stunde lang ihren körper durch zwischenwelten getragen hat, die nichts mit denen eines idioten gemein haben.

– weil es für mich nichts schöneres gab, als sie zum lächeln zu bringen. und weil jede ihrer tränen wie eine kleine kostbarkeit war, die ich einsammeln wollte. sie war jemand, den ich besitzen wollte. obwohl ich die ganze zeit über wusste, dass sie nur sich selbst gehört. dass niemand von ihr besitz ergreifen kann. vielleicht hat mich das fasziniert. vielleicht ist es das, was mich noch immer um den schlaf bringt. ich hatte das gefühl, der erste zu sein, dem ihre seele offensteht. und dem deswegen alle anderen türen verschlossen bleiben.

ich zeichne ihr gedankenverloren mit der fingerspitze ein x auf den nackten rücken. und warte auf einen bissigen kommentar oder ein tiefes heeey. aber nichts geschieht. der mond lächelt weiter über meiner scheinwelt. und alle entscheidungen, die zwischen zerwühlten laken schlummern, fallen wie hilflose teddybären von der bettkante.

– aber du, du stellst mich nicht in frage. du stellst uns nicht in frage. du hältst dort deine offenen arme für mich bereit, wo ich herunterzufallen drohe. und dafür liebe ich dich.

– kannst du dir vorstellen, dass das für mich zu wenig ist? und dass ich dennoch nicht von dir lassen kann?

– das kann ich. aber manchmal kann man nur versuchen, den anderen vom offenen fenster zu reißen. manchmal ist dieser versuch alles, woran man sich klammern kann …

– sag mir nur eins, warum kämpfst du nicht um sie, wenn sie dir doch nach wie vor so viel bedeutet?

– das, was du liebst, musst du loslassen können … ich weiß, es ist nicht mehr als ein lausiger kalenderspruch. aber es ist die verfluchte wahrheit. ich will nur, dass es ihr gut geht. egal wo. und egal mit wem …

– aber dich, dich kann ich nicht mehr loslassen. nein. ich will, dass du alles andere zurücklässt. dass du sie zurücklässt! und dass du dich für mich entscheidest. so wie ich mich für dich entschieden habe.

– wenn du mich retten kannst, gehe ich mit dir bis ans ende der welt. du musst mir nur versprechen, dass sich dein kopf nicht gegen mich stellt. und dass das trommeln in deinem herzen alles ist, woran du glaubst, wenn du unter meiner haut dein zuhause aufbaust.

aus den augenwinkeln sehe ich wie am fenster ein spatz vorbeifliegt. ein kleiner singvogel, dessen aufgeplustertes fell stolz im mondlicht schimmert. und ich frage mich, ob das ein traum ist, den jemand freigelassen hat. während aus der winzigen stereoanlage auf dem fensterbrett eine einzelne zeile durch die gefrorene zeit weht. ein einzelnes seufzen, wehrlos und verletzlich: one day baby, we’ll be old / oh baby, we’ll be old / and think of all the stories that we could have told …

manchmal, wenn wir die augen nach jemandem ausstrecken, bleiben wir staunend im staub der straße zurück. manchmal legt sich der staub, aber das staunen lässt nicht nach. auch wenn das kopfnicken wieder anspringt. wenn wir nicht nein sagen, sondern den klängen des morgens eine chance geben. wenn wir nicht mit dem sonnenaufgehen zwischen häuserschluchten verschwinden, sondern beschließen zu bleiben. selbst dann noch klettert das staunen wie ein kleines äffchen aus den fenstern, die uns im innersten das licht auch dorthin schicken, wo chaos und ordnung so etwas wie einen kampf ausführen. da, wo leere stellen darauf warten, frisch tapeziert zu werden.

und irgendwo steht immer jemand am fenster – mit tränen in den augenwinkeln –, um den träumen zuzusehen, die freigelassen wurden und durch die nacht fliegen.

wo bist du, wo bist du, wo bist du …?

– hier. ich bin hier …

kondratjew-zyklus

wenn ich die augen schließe, dann kann ich das klackern deiner absätze hören. und diese stadt ist wieder so, wie sie einst war. dann liegt sie da wie ein frisches bettlaken. glattgestrichen und faltenfrei. und die zeit, die jetzt zerwühlt am boden liegt, sie ist noch voller erwartungen. alles ist zugleich in bewegung. und irgendwie auch nicht. alles ist alt. und doch irgendwie neu. vielleicht auch, weil ich mit deinem neugierigen blick durch die straßen spaziere.

die luft, sie streckt sich. kalt und klar wandert sie durch die straßen. sie schlängelt sich entlang der kleinstadtschluchten und füllt die lungenflügel mit gefrorenen fragen, die keiner ausatmen will. wir betrachten die riesigen armbanduhren mit den großen zifferblättern im schaufenster. die wärme deiner handfläche und das seichte leuchten auf deinen wangen, wenn du mir sagst, welche uhr dir gefällt und welche nicht – das alles trägt mich durch den kühlen abend.

ich versuche mir deine favoriten zu merken. weil ich sie dir alle schenken will. weil ich will, dass alles, was dir gefällt, dir gehört. und die liste in meinem kopf wird immer länger. aber das stört mich nicht. für dich würde ich die ganze stadt mit einer kleinen schaufel ausgraben und zu fuß ans meer tragen, damit du glücklich bist. da zwingen mich ein paar teure uhren bestimmt nicht in die knie.

aber irgendwann muss ich die augen wieder öffnen und zusehen, wie sich die stadt verändert. hier und da sind kahle stellen, an denen nichts mehr nachwachsen wird. aber zwischendrin füllen sich die leeren stellen allmählich wieder mit leben. und dort wartet jemand auf mich. und ich werde hingehen. weil in jedem abschwung auch wieder an einem neuen paradigma gearbeitet wird …

cumulonimbus

kann man ein sommergewitter alleine genießen? nein. und zum glück muss ich das auch nicht. ich kann meine arme ausstrecken und dann, dann bist du da. dann kann ich mich an dir festhalten, meinen kopf auf deiner schulter ablegen und zusehen, wie die weiße sonne allmählich am milchigen himmel verschwindet. wie sich das leuchten in betongraues schweigen wandelt. wie irgendwann das wasser aus den wolken fällt und die stille bricht. wie die blitze in unregelmäßigen abständen das stete strömen zerteilen.

jetzt, hier am offenen fenster, ist keine zeit, sich für ein später zu entscheiden. oder über das plätschern hinweg zu viele worte zu verlieren. keine zeit für versprechungen oder alte ängste. das wichtigste sind nur die feste umarmung und das bedürfnis, nichts zu verpassen. wenn so ein wetter vorbeiläuft, dann ist das wie mit diesen sanduhrmomenten. solange der sand durch die schmale einschnürung des glaskolbens rieselt, gibt es weder ein gestern noch ein morgen.

und obwohl wir heute nicht im regen tanzen, weil das nasse ausatmen des schwülen nachmittags den abend in kälte taucht, kann ich sehen, dass auf deinem gesicht ein lächeln zwischen deinen mundwinkeln tanzt. und als der wind sich dreht und uns einen feinen sprühregen ins gesicht fegt, muss auch ich lächeln.

das schneemädchen

und überhaupt, es gibt eben diese nächte, in denen ungeheuer in der dunkelheit lauern. ungeheuer, die ihre zähne fletschen. die darauf warten, dass du aufwachst und ängstlich neben dich greifst, weil du eine hand zum festhalten suchst. aber du findest nichts. außer dem endlosen ödland deiner matratze, das sich kaltschnaubend unter dir ausbreitet.

vielleicht sind das nächte, in denen du nicht zusehen möchtest, wie die schneeflocken im orangefarbenen laternenlicht auf den asphalt stürzen. vielleicht willst du wieder die augen schließen und nicht an die ungeheuer denken, die in deinem schrank wohnen, sondern viel lieber eine gute-nacht-geschichte erzählt bekommen. wie etwa die geschichte vom schneemädchen.

hier ist sie. und sie ist nur für dich.

nadjenka lässt sich mit weit ausgestreckten armen nach hinten fallen. der pulverschnee macht ein schmatzendes geräusch und verschluckt das kleine mädchen. nur der rote bommel ihrer wollmütze ragt noch aus dem weißen meer aus eiskristallen hervor. sie lacht laut auf und rudert mit ihren armen und beinen. auf und ab. hin und her.

der eisige wind hat ein zartes rosa auf ihre wangen gemalt. den dicken schal hat sie sich zweimal um den hals gewickelt. die bunte mütze mit dem großen bommel sitzt tief im gesicht und bedeckt ihre ohren. unter dem schweren mantel trägt sie einen strickpullover, darunter eine vielzahl von lang- und kurzärmligen t-shirts. die hose ist aus schwerem stoff, der die kälte nicht von ihr abhält, sondern sie wie wasser in sich aufsaugt. aber ihre mutter hat ihr auch noch eine strumpfhose aus dem schrank geholt. die kratzt zwar immer ein wenig, jedoch hält sie nadjenkas beine warm. ihre füße sind mit zwei paar socken gegen die minusgrade und den tiefen schnee geschützt und stecken in festen stiefeln.

matrjoschka hat ihre mutter sie genannt. aber sie fühlt sich eher wie eine zwiebel. eingepackt in zahllose woll- und stoffschichten. wenigstens friert sie nicht. und bewegen kann sie sich trotz allem auch noch. sie macht, wie um das gedachte zu überprüfen, noch einmal fliegende bewegungen mit ihren armen. ja, das geht, kichert sie. und dabei blitzen ihre weißen milchzähne auf, die genauso strahlen wie das schneetuch, das sich, so weit das auge reicht, über die hügelige landschaft gelegt hat.

sie steht auf und klopft sich den schnee von der kleidung, der nun in die engelförmige mulde rieselt. ihre schlittschuhe hat sie in einer großen tasche versteckt, damit mama sie nicht sehen konnte. was hast du da eingepackt?, fragte mama noch. nur ein paar kekse und etwas heiße schokolade, war ihre antwort, die etwas zögerlich über ihre lippen schwappte, aber immer noch schnell genug aus ihrem mund kam, um mama nicht argwöhnisch zu machen. denn mama hatte ihr verboten, alleine schlittschuhlaufen zu gehen.

nadjenka zieht einen stiefel aus, stellt ihn neben sich und streckt ihr bein nach oben, damit der fuß nicht in die schneeschicht taucht und nass wird. sie greift in die schwere tasche, die halb im winterlichen milchschaum versunken ist, zieht einen schlittschuh heraus und schlüpft hinein. sie bohrt die kufe vor sich in den schnee, und bindet die schnüre abwechselnd von rechts nach links über kreuz, bis sie oben ankommt und eine schlaufe mit einem doppelten knoten zusammenzieht. danach zieht sie den anderen stiefel aus und wiederholt das prozedere.

wackelig steht sie auf und geht auf die eisfläche zu. vorsichtig setzt sie die erste kufe auf den spiegelglatten see. die gefrorene schicht fühlt sich fest an. fest genug, um nadjenkas gewicht zu tragen. sie drückt sich beherzt vom ufer ab, winkelt ihr bein an und gleitet auf einer kufe bis in die mitte des sees. wie ein stolzer schwan schliddert sie weiter vorwärts, schlägt alternierend mit dem linken und dem rechten fuß die langen stahlstreifen im scherwinkel in das eis. dann bleibt sie auf der stelle stehen und dreht sich wie eine spieldosenprinzessin im kreis.

sie taucht so unerwartet und abrupt in das eiswasser ein, dass der kälteschock ihr den atem nimmt. sie hat die risse nicht gesehen, so sehr war sie in sich vertieft, während die welt sich wie ein langes achselzucken um sie drehte. das kalte wasser nimmt sie sofort in die arme und legt sich entschlossen um ihren kleinen körper, so fest und duldsam, dass ihr herzschlag vor lauter schreck schluckauf bekommt. bevor sie überhaupt darüber nachdenken kann, an den rand der eisscholle zu gelangen, saugt ihre bekleidung das blaue nass so tief in sich ein, dass sie wie ein stein in der tiefe zu versinken droht. sie rudert hektisch mit ihren armen und beinen. gerade so, als wolle sie wieder einen engel in den schnee zeichnen. aber jetzt geht es nicht um spielereien. jetzt geht es um weitaus mehr.

vielleicht sind erst zehn sekunden vergangen. vielleicht auch zwanzig. aber schon spürt nadjenka, wie das gewicht ihres körpers sie nach unten zieht, wie jede bewegung weiter an ihren kräften zerrt und sie der erschöpfung näher bringt. und auf einmal ist es nicht mehr die bittere kälte des eiswassers, die sich in ihre haut beißt. sondern ein stechender schmerz, der sie umfasst, als wäre sie von flammen umgeben. ihre atmung ist schnell und flach. kurze stöße, die ihr die luft in kleinen portionen in die lungen pressen. fortwährend taucht ihr kopf unter die wasseroberfläche. wieder und wieder schluckt sie eiskaltes wasser, wenn sie einatmen will. und von mal zu mal werden ihre schwimmstöße fahriger.

eine stimme dringt zu ihr durch. eine stimme, die nicht in ihre ohren rauscht, sondern die ruhig und gleichmäßig zwischen ihren schläfen fließt. halt still, snegurotschka, halt still. versuch dich möglichst wenig zu bewegen. teil dir deine kräfte ein. snegurotschka, ich bin bei dir. hier ist meine hand. nimm sie. und halt dich an ihr fest. es ist die stimme ihrer verstorbenen großmutter.

unerwartet spannt sich ein karussell aus bildern um ihre augen. ein farbrauschendes geflecht aus sich überlagernden erinnerungen. momentaufnahmen ihrer großmutter, der kleinen frau, die nicht viel größer als nadjenka war und manchmal sogar noch kleiner wirkte, weil sie immer vornübergebeugt lief, abgestützt auf einem abgegriffenen gehstock. deren gesicht so tiefe falten hatte, dass nadjenka dachte, alles, was ihre großmutter jemals erlebt hatte, habe sich in ihrer haut verewigt, so wie die lebenslinie auf einer handfläche mit jedem jahr einen tieferen graben zieht. und deren mund im schlaf so eingefallen war, wenn sie ihre falschen zähne auf dem nachttisch liegen hatte, dass nadjenka dachte, großmutter habe ein lachen verschluckt. deren augen so klar und leuchtend waren, als könne ihnen das alter nichts anhaben, als hätten sie alles, was sie jemals gesehen haben in sich gespeichert und würden es jetzt in jeden blick legen, mit dem sie die welt um sich herum aufmerksam betrachtete. deren winzige hände schon etwas verschrumpelt und rauh, doch immer gut gepflegt waren und jeden abend auf nadjenkas bettdecke ruhten, wenn sie ihr eine gute-nacht-geschichte erzählte. deren ohren nicht mehr alles hörten, so dass nadjenka beim kartenspielen mit ihrer großmutter manches zwei- oder dreimal sagen musste, vielleicht, so dachte nadjenka, weil diese ohren in ihrem langen leben schon viel zu viel gehört hatten, um jetzt noch platz für neue worte zu haben. für nadjenka war ihre großmutter nicht nur der weiseste mensch, den sie kannte, die größte geschichtenerzählerin weit und breit und die aufmerksamste zuhörerin, die ihr je begegnet war. sie war vor allem ihre beste freundin.

die bilderflut bricht jäh in sich zusammen und eine schwarze wand türmt sich um nadjenka auf. da ist kein eiswasser mehr. und auch keine kälte. da ist kein atmen mehr. und auch keine bewegung. da ist nicht mal mehr ein körper, der versinken kann. da ist nur noch bleierne schwärze. und dann nichts mehr. snegurotschka, bleib bei mir …!

 

wärme flutet ihren körper. ihre hände fühlen sich taub an, nur diese winzigen stechenden nadeln in den fingerspitzen und fußzehen, die spürt sie. und dieses kribbeln in armen und beinen. und da ist dieses wabernde leuchten, als sie die augen öffnet. sie blinzelt, weil sie sich erst an die helligkeit gewöhnen muss. sie braucht einen moment, um zu erkennen, dass es kaminfeuer ist, in das sie schaut. eingewickelt in eine flauschige wolldecke nimmt sie das knistern der holzscheite wahr und das tiefe seufzen, das der schlafende hund an ihrer seite von sich gibt. was für ein hübsches tier, denkt nadjenka. wie er da liegt, mit seinem goldenen fell, und sie sich bei ihm sofort sicher fühlt.

“trink den tee, solange er noch heiß ist!” die stimme ist brüchig und dünn wie das blecherne krächzen eines kleinen taschenradios. “wer sind sie?”, fragt nadjenka, legt eine kurze pause ein, in der sie den kopf zur seite dreht, um herauszufinden, wer mit ihr spricht, und schiebt gleich die nächste frage hinterher: “und wo bin ich?”

“hab keine angst, kleines fräulein, ich bin philipp”, sagt der alte mann, der neben ihr wie zusammengefaltet in einem schweren sessel sitzt, “ich habe dich aus dem see gefischt, halb erfroren und bewusstlos. jetzt bist du in meiner hütte. du wärmst dich hier erst mal auf. dann bringe ich dich nach hause. zu deinen eltern”.

er muss mindestens hundert jahre alt sein, denkt nadjenka. sein gesicht sieht aus wie ein zerknülltes blatt papier, so zerknittert ist es. er wirkt gebrechlich, wie ein mensch, der im laufe seines lebens geschrumpft ist und jetzt zu viel haut an seinem körper trägt. aber etwas weiches, sehr warmes und freundliches liegt in seinem müden blick. etwas, das nadjenka beruhigt und jedes fünkchen angst, das sie bei einem fremden haben sollte, auf der stelle verscheucht. “danke”, sagt sie zaghaft.

philipp schaut runter zu dem hund, “mir brauchst du nicht zu danken. dank ihm. ohne ajosch hätte ich dich nicht gefunden.” ajosch hebt seinen kopf, nur ein paar zentimeter, gerade so, als wolle er bestätigen, dass es um ihn geht, dann legt er ihn wieder auf seine vorderpfoten, die über kreuz auf nadjenkas decke ruhen, schnaubt zufrieden und schläft weiter. “es ist fast schon ein kleines wunder”, redet philipp weiter, “wie aus heiterem himmel fällt das bild vom kamin, ajosch schreckt auf und rennt zur tür. er bellt ganz aufgeregt und kratzt wie wild an der tür, ich denke, jemand muss vor der tür stehen und öffne sie, aber da ist niemand. ajosch indessen hechtet sofort nach draußen, bleibt immer wieder stehen, dreht sich zu mir um und bellt. dann läuft er ein paar schritte weiter. ich vertraue ajosch und seinem instinkt. wenn er so etwas veranstaltet, muss es einen grund dafür geben. also ziehe ich meinen mantel über und gehe hinter ihm her. er hat mich direkt zu dir geführt.”

“danke, ajosch”, flüstert nadjenka und streichelt ihm über den kopf. sie trinkt einen schluck tee, der noch immer sehr heiß ist.

“nun weißt du, wer wir sind. aber wie ist dein name, kleines fräulein?”

“ich heiße nadjenka.”

“ein schöner name. hast du hunger, nadjenka?” er steht auf, ohne eine antwort abzuwarten. “ich hole dir ein paar kekse, es kann nicht schaden, wenn du etwas isst, um wieder zu kräften zu kommen. du magst doch schokoladenkekse, oder?”

er geht so langsam in richtung flur, dass sich nadjenka fragt, wie der alte mann sie aus dem wasser ziehen konnte. jeder einzelne schritt scheint für ihn eine große anstrengung zu sein. nadjenka sieht sich das bild auf dem kamin an, das bild von dem philipp erzählt hat. es zeigt ein junges mädchen, sie mag vielleicht anfang oder mitte zwanzig sein. die aufnahme ist farblos und verblichen. nur weiß, schwarz und dazwischen eine abstufung von grautönen. das foto muss sehr alt sein und farbe gab es damals wohl noch nicht, denkt nadjenka. aber wie hübsch sie ist! auf ihren lippen funkelt ein bezauberndes lächeln. wie eine prinzessin sieht sie aus, denkt nadjenka. denn nur prinzessinnen können so schön sein. der rahmen um das bild ist entzwei gebrochen und das glas zersplittert. dennoch glaubt nadjenka, noch nie etwas so wundervolles gesehen zu haben. der alte mann muss dieses mädchen sehr gerne haben, denkt sie.

philipp kommt mit einem teller voller schokoladenkekse zurück, den er vor nadjenka auf den tisch stellt. wieder sind seine bewegungen so langsam und schwerfällig, dass sie sich fragt, wie alt ein mensch überhaupt werden kann. aber das streift nur kurz ihre gedanken. was weitaus größeren raum einnimt, ist ihre neugierde, die unverdrossen und kindlich unbedarft aus ihr heraus plätschert: “das mädchen auf dem foto, wer ist sie? deine tochter?”

“nein”, antwortet philipp schmunzelnd. dann legt sich ein glänzendes schimmern in seine augen, das nadjenka nicht zu deuten weiß. ist er traurig? oder ist es freude, die da leuchtet? oder gar beides? obwohl nadjenka nicht verstehen kann, wie man beides gleichzeitig empfinden soll.

“als wir uns kennenlernten, waren wir beide noch sehr jung … 66 jahre liegt das nun zurück. fast auf den tag genau.”

“erzähl mir davon! ich möchte wissen, wer sie war. bitte!”

vielleicht ist es die unschuld, die aus ihren worten tropft. vielleicht auch etwas anderes. auf gewisse weise erinnert nadjenka ihn an das junge mädchen auf dem foto. und vielleicht ist es auch einfach der rechte moment, um seine geschichte zu erzählen. und so lässt er sich in die vergangenheit fallen.

 

in jenen tagen hatte klirrende kälte das land fest im griff. und das einschläfernde grau des winters war unter einer dicken schneeschicht verschwunden. so viel schnee hatte ich seit meiner kindheit nicht mehr gesehen. es war der kälteste februar, den ich je erlebt habe. und dennoch ging ich jeden abend im park spazieren, um die sterne zu betrachten, die in diesen klaren nächten besonders hell leuchteten. vielleicht, kleine nadjenka, wollte ich auch die narben, die der krieg hinterlassen hatte, nicht mehr spüren. vielleicht hatte ich die hoffnung, das könne alles erfrieren und absterben, wenn ich mich nur oft genug wie ein landstreicher der kälte aussetzen würde.

als ich sie das erste mal sah, saß sie alleine auf einer parkbank. schneeflocken rieselten durch den nachthimmel und bedeckten sie von kopf bis fuß. ihre kleidung war abgenutzt, hatte schon zu viele winter überstehen müssen, ihr körper war schlank und sie wirkte so zart und filigran – eine einzige windböe hätte sie davon tragen können.

niemals hätte ich mich getraut, ein fremdes mädchen ohne rechten grund anzusprechen. aber in ihrem blick lag eine unergründliche wehmut, die mir die brust zusammenschnürte, gleichwohl aber ein gefühl tiefster zuneigung aufkommen ließ, so dass ich allen mut zusammen nahm und zu ihr ging.

“wertes fräulein, darf ich es wagen, mich zu erkundigen, warum ich sie bei dieser lieblosen witterung und zu dieser späten stunde alleine auf einer parkbank vorfinde, frierend und zugeschneit?”

“sie dürfen, junger mann. doch muss ich ihnen eine antwort schuldig bleiben. es sind umstände, deren unerfreuliche natur zu tiefgründig für fremde ohren ist.”

“dann werde ich mich schweigend neben sie setzen, wenn sie erlauben.”

“setzen sie sich, aber schweigen sie nicht. es gibt unzweifelhaft noch viele andere dinge, über die es sich zu reden lohnt. nur reden sie! seien sie nicht so schüchtern, bitte. es mag vielleicht helfen, mich etwas aufzuwärmen, wenn ich mich mit ihnen ein wenig unterhalte.”

“ach, was soll ich ihnen nur erzählen?”

“was immer es sein mag. ich höre zu.”

“womöglich möchten sie wissen, warum mein blick an das himmelszelt gehaftet war, bevor ich sie sah? zumal mir jetzt nichts anderes in den sinn kommen will.”

“weiter, erzählen sie!”

“schauen sie, dort oben, etwas überhalb des löwen, da ist ein ganz unscheinbares sternenbild, der leo minor, der kleine löwe. er wird oft übersehen, weil er nur aus zwei sternen besteht, die nicht sonderlich hell leuchten. aber gerade deswegen ist mir dieses sternenbild das liebste. zwei unauffällige sterne, zwischen denen eine imaginäre linie verläuft …”

“sind sie ein so gescheiter kopf? oder haben sie das bloß auswendig gelernt, um damit unbedarfte mädchen zu beeindrucken?”

“weder noch! das ist nur den vielen nächten zu schulden, die ich im krieg unter freiem himmel verbringen musste.”

“das möchte ich mir lieber nicht vorstellen. sie müssen schreckliches gesehen und erlebt haben. aber es rührt mich, dass sie des nachts nach sternen ausschau gehalten haben.”

“verzeihen sie, wenn ich das so sage, aber womöglich sind sie mir genau deswegen aufgefallen.”

“was meinen sie?”

“sie sahen wie etwas aus, das vom himmel gefallen ist, das einfach nicht hierher gehört, weil es zu schön ist, um seinen platz in einer welt wie dieser zu haben.”

“wie frech sie sind! mir ohne weiteres ein kompliment zu machen. und so ein feines! ich kann nur froh sein, dass die kälte bereits meine wangen eingefärbt hat. sonst fiele ihnen auf, dass ich nun wegen ihnen erröte.”

“das lag nicht in meiner absicht! aber ich kann auch nicht behaupten, es zu bereuen.”

“um ehrlich zu sein, ihre kleine schmeichelei hat mich erwärmt. dennoch, ich werde nun nach hause gehen. es ist spät. und die nacht ist bereits zu weit fortgeschritten für uns beide.”

“ob ich sie wohl morgen wieder hier antreffen darf?”

“treuer freund – so nenne ich sie, obwohl wir uns kaum kennen –, ich kann es nicht versprechen. aber ich darf ihnen sagen, dass mir ihre gesellschaft sehr gefallen hat. vielleicht sehen wir uns wieder. vielleicht …”

“ich werde morgen zur selben stunde hier sein. wenn ihnen danach ist, freue ich mich darauf sie wiederzusehen.”

“auf bald …”

“auf morgen!”

“vielleicht …”

“warten sie! wie heißen sie? sie haben mir ihren namen noch nicht verraten.”

“das mag noch ein geheimnis bleiben. nennen sie mich vorläufig nur schneemädchen. immerhin haben sie mich doch eingeschneit vorgefunden …”

“ich heiße philipp.”

“gute nacht, philipp.”

“auf wiedersehen, schneemädchen.”

den nächsten abend wartete ich vergebens auf sie. und auch an den darauf folgenden. es dauerte eine woche, bis ich sie wiedersah. abermals saß sie verloren auf der parkbank – wie jemand, den das leben übersehen hatte.

“schneemädchen! wie schön, sie zu sehen!”

“ach, philipp, es tut mir unendlich leid, aber ich konnte in den vergangenen tagen nicht kommen. es ging einfach nicht.”

“schweigen sie! zumindest hierüber. ich brauche keine gründe für ihr fortbleiben. jetzt sind sie da. und das alleine reicht aus, um das warten vergessen zu machen.”

“danke! setzen sie sich zu mir und schenken sie mir ein bisschen wärme.”

“wenn ich ihnen doch nur mehr geben könnte als das!”

“sie wissen ja gar nicht, wieviel mir ihre anwesenheit bedeutet und wie gerne ich mich mit ihnen unterhalte. ich sehe ihnen doch an, dass sie genauso wenig besitzen wie ich. machen sie nicht so ein gesicht. das ist nichts, wofür man sich schämen muss. nicht in diesen zeiten.”

“es verstimmt mich nur, sehen zu müssen, wie sehr sie frieren, liebes schneemädchen. ich fühle mich derart machtlos, dass es mir den magen dreht!”

“machen sie sich keine sorgen. nicht wegen mir! ihre worte reichen mir aus. sie bescheren mir ein lächeln. das ist mehr wert für mich als alles andere. und wenn sie mir nun noch ihren arm geben, damit ich mich bei ihnen einhaken kann, will ich gänzlich zufrieden sein.”

“nehmen sie meinen arm. nehmen sie auch den anderen, wenn sie wollen. das alles soll ihnen gehören. solange sie möchten.”

“ich möchte ihnen ein geheimnis verraten, philipp.”

“nur zu!”

“nein, ich kann es doch nicht.”

“sie wollen mich wohl zum narren halten?”

“nein, gewiss nicht! ich habe es mir lediglich anders überlegt.”

“wie schnell sie doch ihre absichten ändern können. geschieht das häufiger?”

“ich habe eben so viel vertrauen gespürt, dass ich wankelmütig wurde. tragen sie es mir bitte nicht nach! legen sie lieber ihren arm um mich. nun machen sie schon! ich möchte meinen kopf auf ihre schulter legen.”

“ich werde mir morgen etwas geld borgen, damit ich sie abends ausführen kann!”

“stürzen sie sich nicht in unkosten. nicht meinetwegen.”

“machen sie sich darüber keine gedanken! es gibt hier gleich in der nähe ein café. das essen ist einfach, aber gut.”

“und wenn ich morgen keine zeit für sie habe?”

“dann bin ich übermorgen wieder hier. und wenn es sein muss, bin ich von nun an jeden abend hier …”

“das ist süß von ihnen. ich werde sehen, ob ich kommen kann.”

erneut vergingen endlose abende, an denen ich sie nicht antraf. abende, an denen ich mich fragte, ob ich sie überhaupt je wiedersehen würde. abende, an denen ich alleine auf der parkbank saß und den kleinen löwen beobachtete. neun tage und nächte zogen ins land, dann war sie wieder da.

“philipp! entschuldigen sie mein wegbleiben. sie haben mir so gefehlt!”

“sie mir auch. nun kommen sie! heute wollen wir sie nicht der kälte aussetzen. heute wollen wir eine kleinigkeit essen gehen und uns mit rotwein aufwärmen.”

“ich habe ihnen doch gesagt, dass sie das nicht machen sollen!”

“keine widerrede, liebes schneemädchen. hier, nehmen sie meinen arm und dann lassen sie uns gehen.”

als ich ihr im café den mantel abnahm, sah ich zum ersten mal wie dünn sie eigentlich war. sie schien sich ein wenig zu genieren, so schnell setzte sie sich an den tisch und versteckte ihren ausgezehrten körper. sie bestellte zuerst nur eine suppe, das billigste gericht auf der karte, und klammerte sich lange an ihr weinglas, von dem sie nur sehr zögerlich nippte. nach einigem hin und her konnte ich sie dazu überreden, ihr noch etwas fleisch mit kartoffeln zu bestellen. sie aß so langsam, dass es mir vorkam, als wolle sie jeden bissen bis zum letzten auskosten. wahrscheinlich hatte sie seit tagen nichts vernünftiges zu essen bekommen.

nachdem ihr magen gefüllt war, trank sie mehr wein, und ich bestellte eine weitere flasche. ich machte mir keine gedanken um das geld und wie ich es zurückzahlen sollte. das war jetzt nebensächlich. wichtig war nur, dass wir zusammen waren. und dass ich sie lächeln sah.

unsere zungen wurden stetig leichter. man könnte behaupten, ihnen wuchsen flügel. und doch wählten wir unsere worte so sorgsam aus, als hätten wir angst, auch nur eines zurücknehmen zu müssen. aber als aus dem massiven röhrenradio, das auf der bar stand, ein langsames klavierstück zu hören war, stand ich auf und nahm ihre hand.

“darf ich sie … ach, was soll’s … darf ich dich um diesen tanz bitten?”

“ja, sehr gerne!”

ihre wangen glühten als ich sie in den armen hielt. und dieses mal war es nicht die kälte, es war etwas anderes. etwas, das sie dazu brachte, mir ins ohr zu flüstern – obwohl uns ja doch keiner hören konnte, da wir die einzigen gäste waren.

“bist du so nett und nimmst mich heute nacht mit zu dir nach hause? es gibt keinen anderen ort, an dem ich jetzt sein möchte.”

“aber ich habe nur ein kleines studierzimmer!”

“das ist mir gleich. und wenn wir unter dem sternenhimmel schlafen müssten. ich möchte einfach nur, dass du in meiner nähe bist.”

am nächsten morgen verließ sie mein zimmer, während ich noch schlief. alles, was zurückblieb, waren ihr warmer abdruck auf der matratze und der süße duft von reifen weintrauben.

selbstverständlich suchte ich in den nächsten tagen jeden abend den park auf. aber unsere bank blieb leer. es machte fast den anschein, als habe ich mir das schneemädchen nur eingebildet. als wäre sie nie dagewesen.

einige wochen später fand ich einen großen umschlag in meinem briefkasten. in ihm war das foto, das nun auf dem kamin steht. und auf seiner rückseite eine handschriftliche notiz:

lieber philipp! verzeih mir, dass ich mich nicht mehr mit dir treffen kann. zu mächtig ist mein geheimnis geworden. so einnehmend, dass ich nun unsere verbindung auflösen muss. obwohl ich es bis in alle zeit bereuen werde. aber wenigstens meine erinnerungen an dich kann mir keiner mehr nehmen … in ewiger verbundenheit, deine snegurotschka

 

“auch heute noch, nach all den jahrzehnten, vergeht kein tag, an dem ich nicht an sie denke. kein tag, an dem ich sie nicht vermisse …“

nadjenkas blickt haftet nachdenklich an dem foto. diese geheimnisvollen augen, sie kommen ihr so vertraut vor. und auch die feinen grübchen, die hohen wangenknochen und die schmalen lippen. sie überlegt noch eine weile, aber dann ist sie sich ganz sicher, dass es die gleiche person ist, die zu ihr nach jeder gute-nacht-geschichte sagte: und nun schlaf gut, mein schneemädchen …

the girl with the flower tattoo

emotional or reason, now which one do you obey?
spooks – “things i’ve seen”

sie fangen ja meist ganz harmlos an, diese geschichten, erst streifen sie deinen arm, nur ganz sacht, so, dass sich vielleicht die härchen von der leichten berührung aufrichten, dass da vielleicht der ansatz einer gänsehaut zu erkennen ist. aber irgendwann legen sie sich wie steine in deine magengrube und diese gänsehaut, sie wandert eines tages über deinen herzmuskel, umschließt ihn mit eisigen bewegungen und dann fühlt sich das alles nicht mehr wie ein wohliger schauer an, nein, dann hat das mehr ähnlichkeit mit einem wolkenbruch, der sich in dir eingenistet hat.

– über was denkst du nach?
– über uns …

01:33
sie senkt den kopf, weil sie sich zu viele erinnerungen in den nacken geklemmt hat. sie sitzt mit angewinkelten beinen vor ihrem bücherregal auf dem boden – dostojewski, nabokov und murakami im rücken –, und das glas rotwein, das sie schluchzend mit ihrer hand umklammert, fängt ihre tränen auf, die von ihren leicht geröteten wangen wie perlen in die tiefe fallen.

obwohl sie die beziehung beendet hat, fühlt sie sich verlassen. sie möchte schreien. und einfach nur still sein. sie ist absolut leer. und gleichzeitig ein fass, das kurz vorm überlaufen ist. da war nichts, was ihr den abschied erträglich gemacht hat. nichts, was sie aufheben und an ihr herz pressen könnte. da war nur dieses widerliche aufbäumen, das sich ihr in den weg gestellt hat. das vielleicht nach atemnot klang. nicht aber nach luftholen. so, wie sie es sich vorgestellt hatte.

das ganze darüber nachdenken und in zweifel stellen verschachtelt ihren kopf. sie ballt die hände zu fäusten und schlägt gegen die wand. zuerst sind es nur zaghafte versuche, sich wieder zu spüren. doch dann schlägt sie fester zu. wieder und wieder. bis ihre fingerknöchel blutig sind, weil die haut allmählich aufplatzt und in kleinen fetzen herunterhängt. sie verteilt rote spuren auf der weißen rauhfasertapete. spuren aus verzweiflung und nackter wut.

sie greift nach kafka am strand. wirft es voller wucht in die hinterste ecke ihres wohnzimmers, will kafka nicht mehr sehen. greift nach lolita und schmeißt es kafka hinterher. sie trinkt mehr wein. und mit jedem weiteren schluck zieht sie eines ihrer bücher aus dem regal und schleudert die aufwirbelnden seiten in hohem bogen durch den raum. sie ist sauer, weil ihr die wortgewandtheit gefehlt hat, um sich zu erklären. jetzt will sie worte leiden sehen.

22:54
es funktioniert einfach nicht … mehr hast du mir nicht zu sagen? mehr nicht …?
– mehr kann ich dir nicht sagen …
– die ganze zeit über wolltest du meine aufmerksamkeit. aber meine gefühle, die stören dich? was ist das? verträgst du keine nähe? hast du angst vor liebe? oder bist du einfach nur beziehungsunfähig?
– sei still. bitte, sei endlich still …
– was erwartest du? dass ich das so hinnehme, vielleicht einmal mit der schulter zucke und so tue, als wäre nichts geschehen? als wäre all das zwischen uns nur ein spiel gewesen …?
– schnauze!
– ich lasse mir doch von dir nicht den mund verbieten! verdammt, ich bin es leid, mich deinen regeln unterwerfen zu müssen. fuck you!
fuck you?, wiederholt sie trotzig, ja, du hast recht, vielleicht sollte ich das machen. ich kann es mir auf jeden fall besser besorgen als du …
er greift nach ihrem kohlschwarzen haarschopf, zieht in ruckartig nach unten und funkelt sie von oben herab an:
– weißt du was? such dir von nun an typen aus, die du am nächsten morgen zum teufel jagen kannst. oder die dumm genug sind, sich nicht in dich zu verlieben. denn mit so etwas kannst du ja scheinbar nicht umgehen …
– arschloch, stammelt sie schluchzend.
– viel zu lange schon, schätzchen. viel zu lange …

er scheint noch etwas sagen zu wollen, schluckt es aber runter, dieses pulsierende gefühl von unverständnis, sucht noch einmal ihren blick – die whiskyfarbenen augen, die weit aufgerissen ins leere starren –, holt tief luft und ein geräusch von stumpfer machtlosigkeit schlüpft aus seinem mund. ein feuchtes schimmern lässt erahnen, dass er mit den tränen kämpft, dass er sich nicht zwischen wut und sehnsucht entscheiden kann. er macht eine ausladende geste mit seinen armen, als wolle er all das, was eben gesagt wurde, zur seite fegen, streicht ihr sanft mit den fingern über die wange und hinterlässt auf ihrer haut ein warmes kribbeln, das sich nicht nach freundschaft, sondern nach den vorboten eines endgültigen abschieds anfühlt.

bei dieser letzten berührung, da muss sie daran denken, wie sie eines nachts vor seiner tür stand, tränenüberströmt, die augen verheult und gerötet. er nahm sie an die hand, sagte nichts, zog sie in den flur und seine arme schlossen sich um sie. so hielt er sie minutenlang wortlos fest, bis das zittern allmählich nachließ, dann nahm er ihren kopf zwischen beide hände, löste ihn von seiner brust und blickte ihr tief in die augen: so, und jetzt nehmen wir die letzten beiden tränen und verwandeln sie in ein lächeln. er strich mit seinen daumen über die glitzernden spuren die unter ihren augen verliefen, senkte die finger ein wenig und zeichnete die ausläufer eines lächelns mit seinen daumen von ihren mundwinkeln hin zu ihren grübchen. diese kleine geste, sie wirkte so banal und irgendwie auch kitschig, und dennoch musste sie tatsächlich lächeln.

aber jetzt verrauscht all das in aufsplitternden gefühlen. er dreht sich um, geht in richtung flur, merkt, dass seine jacke noch über dem stuhl hängt, geht zurück, nimmt sie und verlässt mit entschlossenen schritten ihre wohnung. bevor die tür zuknallt, glaubt sie ein leises lebewohl zu hören. was nun zurück bleibt und diese nacht in ungleich schwärzeres licht taucht, ist nur ein kaltes schweigen. und das leichte beben, das wie die mitternachtsschwere brandung durch ihren körper schwappt.

19:27
wie ein kummervoller schmetterling, der gefahr läuft in tautropfen zu ertrinken, steht sie vor ihrem kleiderschrank und schmeißt alle möglichen sachen auf ihr bett. sie kann sich nicht entscheiden, was sie anziehen soll, zwängt sich letztlich in eine hautenge jeans, die sich makellos um ihre schlanken beine schmiegt, schnappt sich eine neue bluse und taucht in den weichen baumwollstoff, als könne sie damit wahrheiten genauso leicht verhüllen wie ihre vollkommene figur.

sie steht fast so lange im bad wie vor ihrem ersten date. dieses mal aber nicht, um ihre aufregung zu überdecken, sondern um ihre unsicherheit unter einem perfekten make-up zu verstecken. die kleine bisswunde an ihrer oberlippe, das überbleibsel der vorletzten nacht, als der typ meinte, ihr in die lippen beißen zu müssen, sie überlegt noch, ob sie es überschminken soll, greift nach einem roten lippenstift – russian red –, aber sie legt ihn wieder zurück, weil sie sich sicher ist, dass er es so oder so sehen wird, dass er sich seinen teil denken wird, und dass es auch keinen unterschied mehr macht.

sie ist zerrissen. wie diese fotos, die man nach einer trennung voller zorn in zwei hälften zerteilt. weil sie sich freut, ihn wiederzusehen. und weil sie angst hat. weil sie nicht weiß, was sie ihm sagen soll. sie trinkt noch einen schluck wein. und putzt sich dann ein zweites mal an diesem abend die zähne.

einige stunden später
der nächste morgen schwankt vorsichtig an dem schmalen, von einem dunklen holzrahmen eingefassten fenster vorbei. tiefe wolken zerteilen das wachsweiche ausatmen der sonnenstrahlen und würfeln ein ungleichmäßiges licht auf ihre zerwühlte bettdecke. das kurze vibrieren ihres handys reißt sie aus ihrem unruhigen schlaf. ein klopfendes unwohlsein kriecht ihre kehle hinauf, weil sie trotz allem hofft, dass die sms von ihm ist. und weil sie sich genau davor fürchtet. aber auf dem display steht der name des typen, der sich an ihrer lippe festgebissen hatte. der genau in dem moment in ihr leben geschlichen kam, als sie alles andere in frage stellte.

na, süße, den abend gut überstanden?

es war beschissen. und schrecklich absurd.

soll ich zu dir kommen?

lass mich in ruhe. lass mich einfach nur in ruhe …

sie lässt das handy auf den boden fallen, dreht sich mit angewinkelten beinen zur seite, zieht das große kopfkissen an ihre brust und umklammert es fest, weil sie sich an irgendetwas festhalten muss, an irgendetwas, das sich nicht wehren kann, das sie nicht im stich lässt. sie drückt ihr gesicht in das weiche kissen. und eine einzelne träne läuft an ihrer wange herab, schiebt sich zögerlich über ihr kinn und fällt auf das blumentattoo, das sich an ihrem hals entlang schlängelt. aber die dunkelrote belladonnalilie, die von ihrem schulterblatt bis hinter ihr ohrläppchen reicht, zeigt keine regung. nur ein leichtes auf und ab der blütenblätter lässt erkennen, dass nika überhaupt noch am atmen ist.

 

help, i have done it again
i have been here many times before
hurt myself again today
and, the worst part is there’s no-one else to blame

be my friend
hold me, wrap me up
unfold me
i am small
i’m needy
warm me up
and breathe me

ouch, i have lost myself again
lost myself and i am nowhere to be found,
yeah, i think that i might break
i’ve lost myself again and i feel unsafe

[…]

sia – „breathe me“

 

bijou möchte fliegen, aber im wunderland herrscht flugverbot

mag sein, dass manches dein richtungsgefühl durcheinander bringt. dass sich bewegungen plötzlich in zeitlupen verheddern und du nicht mehr weißt, ob du vor- oder zurückläufst. dass sprechblasen platzen und sprachlosigkeit zwischen zwei traurigen augenpaaren hängt. dass da dinge bleiben, die sich jeglichen erklärungsversuchen widersetzen.

mag ja sein, dass manches eine sprengkraft entwickelt, der du nur entgehen kannst, wenn du dich dem wiederkehrenden rhythmus hingibst. wenn du das gleichbleibende pochen in ein analoges staccatissimo auflöst. weil vom ständigen nachdenken alles schon ganz abgegriffen ist. da, unter der kopfhaut, vorne, wo die haare allmählich den gedanken weichen, da zwickt und kratzt es, da wetzen löwen ihre krallen. und genau da wohnt dieses unangenehme gefühl, das ein bisschen was von zu kleinen schuhen hat, in denen die füße schmerzen. weil sich xenismen eingenistet haben, die zu viel raum einnehmen.

all das, all das und noch so vieles mehr – du greifst danach, weil du nicht wieder mit leeren händen dastehen willst. weil du den rotweinlaunen den kampf angesagt hast. ja, weil du es mit ihnen aufnehmen willst, du kleiner krieger, bewaffnest du dich mit buchstaben und wirfst sie in den grauen himmel, der sich wie eine beengende hülle über die tage gelegt hat. du stehst dort und wartest. wartest darauf, dass worte herabregnen, mit denen du dich zur wehr setzen kannst. mit denen du gegen absurde verknüpfungen eine chance hast.

und dann ist da dieser vogel, bijou ist sein name. verdammt, er ist flügelschwach, ihm wurden die tragflächen fixiert. und er weint, weil er nicht fliegen, weil er nicht dem leuchten folgen kann. und du, du hast nichts besseres zu tun, als ihm einen film über flugstunden zu zeigen.

er will frei sein, will seine flügelschläge in den nachthimmel tapezieren. aber er kann es nicht, weil er bei tschaikowskys romanzen (op. 38 no. 6) sein ziel aus den augen verloren hat. weil er sich in die ahnungslosigkeit verliebt hat. weil er den federn nachtrauert, die verstreut auf dem boden liegen und ihre torheiten verteilen. weil er im richtungswechseln immer wieder über seine füße stolpert.

der silberne schwinghebel schnellt nach vorne. mit der vollen wucht des tastenanschlags drückt er die type durch das farbband auf das papier. in immer kürzeren abständen springen aus dem halbkreis die schriftzeichen heraus und hämmern ihren gleichklang in den raum. und mit einem mal hörst du, wie bijou zu singen beginnt. wie sich seine helle stimme gegen das klackern auflehnt und das weiche begehren in seinem tonfall an den wänden entlangläuft …

was hat dein kopf nur gegen mich?

distanzen

irgendwie ist das ja seltsam. wie du deine koffer packst, ohne zu wissen, wohin dich deine reise führen soll. wie du auf luftstrecken deine nasenspitze gegen das kleine fenster drückst und versuchst, in gedanken wolkenschlösser zu kneten. wie du auf schienen die landschaft zerteilst und die augen schließt, um dem verwischen der farben nicht mehr folgen zu müssen. wie du auf staubigen straßen von schlaglöchern wachgerüttelt wirst und nicht aufhören kannst nachzudenken. wie du überall sein willst – nur nicht hier. seltsam, ja. weil du ein rastloser weltenbummler geworden bist, der zwischen verschlossenen türen einen ausweg sucht.

du bist stetig in bewegung. bist wie eine jazzmelodie, die unaufhörlich inmitten filigraner möglichkeiten pendelt. du folgst nur den zeilen, die sich im sonnenlicht auflösen. und den worten, die aus buchseiten fallen. du bist ein weltumsegler ohne segel. du verläufst dich, ohne ein festes ziel zu haben. du gehst und gehst, aber deine schritte sind nicht entschlossen. sie seufzen zögerlichkeit auf deinen weg.

seltsam, dass du immer wieder postkarten kaufst. vielleicht auch um dich zu vergewissern, wo du zwischen dem verknüpfen von entfernungen gerade innehältst. vielleicht ist das deine art von analoger standortbestimmung. aber es steckt mehr dahinter. du kaufst postkarten, auf denen gebäude abgebildet sind. gebäude, die aus zusammengewürfelten geometrien bestehen. aus versetzten stockwerken, welligen betonlinien oder schrägen glasfronten. aber auch gebäude, an deren mauern jahrhunderte vorbeigeflossen sind. auf denen mächtige kuppeln thronen, die ihre horizontalen kräfte auf massive widerlager verteilen.

du greifst nach architektonischem lächeln. und das ist nicht seltsam. denn du weißt genau, warum. weil du bei li(e)beskind nicht an taschen denkst. sondern an philosophische formensprache, die der baukunst neue sinnzusammenhänge verleiht. kannst du dich noch erinnern, wie du als jugendlicher davon geträumt hast, mit architektur geschichten erzählen zu können? ja, das kannst du. weil sie dich wieder daran erinnert hat. aber mittlerweile hast du eine andere sprache gefunden.

jetzt bist du rastlos. verrennst dich in lichterlosen irrwegen und changierenden reiseplänen. du hauchst im pulstakt deine fußspuren auf fremde pflastersteine. du krempelst die ärmel hoch und steckst die hände in die taschen, wenn du deine melancholie hinter distanzen verstecken willst. du schlummerst mit halbgeöffneten augen auf durchgelegenen matratzen. du vagabundierst im dämmerzustand durch tagträume. und ein wirrwarr unbekannter wörter küsst deine ohren.

du verschwendest dich. du xerografierst jeden tag die gleichen bilderwelten. weil ja doch alles irgendwie austauschbar ist, flutest du deine wahrnehmung mit kaum registrierbaren abdrücken. du zelebrierst das verfehlen von gelegenheiten. du stellst dich dir selbst in den weg. und kommst nur dann zur ruhe, wenn du dir für einen wimpernschlag eine unterbrechung schenkst. wenn du in einem café sitzt. auf einer parkbank. oder einer mauer. dann kann es passieren, dass du eine postkarte aus deiner reisetasche hervorholst. du greifst zum stift und beginnst zu schreiben.

mal schreibst du auf, was du erlebt oder gesehen hast. mal notierst du nur ein einzelnes wort, das dir gefällt. obwohl du gar nicht weißt, was es zu bedeuten hat. etwa azahar oder libélula. dann wieder sind es stimmungslagen. kleine beobachtungen. oder gesten. lautmalereien. farben. wetterbeobachtungen. ja, über das wetter kannst du viele worte verlieren … und manchmal schreibst du über das, was dir seltsam vorkommt. wie seltsam du es findest, dass die sonne jeden abend in das meer fällt, ohne dabei nass zu werden. oder wie seltsam sich die tränen anfühlen, die über deine wangen kullern, wenn aus einem geöffneten fenster la traviata auf die straße geweht wird.

seltsamkeit ist deine reisebegleiterin. und sie ist deine einzige. seltsam ist vielleicht auch, dass du nicht eine postkarte abgeschickt hast. du hast sie frankiert und auf jede karte die gleiche adresse geschrieben. aber du steckst sie alle zurück in deine reisetasche. und trägst sie von einem ort zum nächsten. denn briefkästen machen dir angst. weil du das gefühl hast aufzuwachen, wenn du vor ihnen stehst. weil sich dann dein bewusstsein verschiebt und deine hand zitternd in der reisetasche die postkarten umklammert. aber du taumelst weiter. ohne ziel. und ohne festen boden unter den füßen. nur noch bis zur nächsten straßenecke. nur noch ein stückchen. nur noch wenige meter. dann kannst du wieder atmen. dann kannst du wieder frei denken. und deine marschroute dem lauf der sonne unterordnen. und vielleicht, ja vielleicht fühlt sich das alles irgendwann nicht mehr so seltsam an.

luftlöcher stopfen

bei allen unterschieden gibt es auch übereinstimmungen. du weißt es. weil da dieses gleiche verlorensein pocht. weil wir beide versuchen, depressive fußspuren mit dem absatz zu verwischen. weil wir rotlichter eintauschen möchten. gegen irgendwas, das endlich wieder pulsiert. das uns vergessen lässt, dass unsere herzen aufgehört haben zu atmen. und eine stille über allem liegt, die stärker ist als jedes geräusch. die selbst das krallenwetzen der wilden seelen in unseren kopfgefängnissen überlagert.

ja, wir funktionieren. keiner soll uns etwas anderes nachsagen. wir meistern das leben. wir bewegen uns wie stolze schwäne. und verstecken unsere tränen unter der wasseroberfläche. wir tackern und klackern wie aufgeputschte maschinen entlang der oberflächlichkeiten, nach denen sich alles richtet. die aber letztlich keine bedeutung haben. wir spüren das. und unterwerfen uns dennoch falschen spielregeln. klammern uns jede nacht an verlorene hoffnungen. an katzen. an teddybären. und an fremde idioten, die uns doch nicht verstehen. nur weil wir für einen augenblick die einsamkeit vergessen wollen, die tief in uns ihr nachtlager aufgeschlagen hat. aber mit trostpflastern kann man sich nicht zudecken.

we’re just two lost souls swimming in a fish bowl …

mädchen am fenster

nur ein langes t-shirt. enganliegend. ihre schlanken beine wie zusammengeschnürt. ein fuß leicht angewinkelt. du konntest nicht anders, als innezuhalten und sie dabei zu beobachten. wie sie am offenen fenster stand. und traurigkeit in die nacht rinnen ließ. mit unschlüssigen augen. die du gar nicht sehen konntest. weil sie mit dem rücken zu dir stand. du hättest so gerne die melancholie eingesammelt. sie irgendwo in der dunkelheit versteckt. doch das ging nicht. nur die wehmütigen perlen von den wangen küssen. an manchen abenden. aber nicht die welt retten. das überstieg deine möglichkeiten. das hast du gespürt in diesem moment. trotzdem bist du zu ihr gegangen. hast von hinten die arme um ihre taille gelegt. hast versucht, sie festzuhalten. um sie vor dem fallen zu bewahren.

sie hat sich leicht erschreckt. weil du dich lautlos angeschlichen hast. weil sie gedankenverloren war. weil sie immer an anderen orten war, wenn sie bei dir sein sollte. doch du hast das alles auf dich genommen. hast das mädchen am fenster beschützen wollen. das mädchen, das so einsam wirkte. du hast versucht, sie zum lachen zu bringen. weil jedes lächeln von ihr ein kleiner sonnenaufgang war. weil doch sonst nichts zählt. komm schon, das ist es doch, woran du glaubst. an das lächeln von meerjungfrauen, die aus den wellen steigen.

du konntest nicht anders. aber jetzt stehst du am fenster. und dein blick ist traurig. du hast immer noch dieses bild vor augen. das bild von dem mädchen am fenster.

auswerten von flugdaten

aus kalten regentropfen kleine kristalle formen, die nachts leuchten. musik in die ohren legen. butterweich laufen. und auf schaumkronen verweilen. sonnenblicklichter basteln. blumen aus papier falten. und konfettischnipsel in die luft werfen. den tag mit regenbogenfarben besprühen. alle uhren umstellen. auf unterschiedliche zeiten. durch schattierungen schwimmen. sorgenfrei und unbekümmert. und umgebungsvariablen mit zimt berieseln. ein lachen in die wolken pusten. die welt verrücken. die tage verschieben. aufstehen, wenn andere schlafen gehen. und zucker über macken streuen. denkmuster neu weben. gleichbleibende strukturen aufweichen. mit buntstiften leuchtende augen malen. auf weiße rosen. und mit wunderwaffen löcher in die bettdecke schießen. damit träume atmen können. mit katzen sprechen. und nachrichtensprecher auslachen. am meeresgrund flanieren. und aus sand einen kuchen backen. burgen bauen. und märchenherzen erobern. flügel aufspannen und mit drachen spazieren fliegen. zwischen häuserdächer seile spannen. und das gleichgewicht verlieren. auf leeren kartons landen. und die welt verpacken. mit bunten lichtbögen. und sie verschenken. an jeden, den du kennst.

kloßgefühl

die luft ist beschwipst. und du, du wärst gerne ein marienkäfer. weil du auf fingerspitzen balancieren möchtest. aber wer will das nicht? da oben spazieren. mit dem glauben, von hier die welt sehen zu können. aber über dir ist kein azurblaues meer. nein, diesen sommer himmelt es nur betonwüsten, aus denen nasse bindfäden hängen. und zu viel regen verkürzt die sichtweise. denkst du. und damit hast du nicht ganz unrecht. distanzen fühlen sich manchmal wie ertrinken an. erst das schwimmversagen. dann unfreiwillige atemzüge unter wasser. und zuletzt das äußere ersticken. aber wenn du schon nach vergleichen suchst, dann ist das auch ein bisschen wie höhenschwindel. nicht unbedingt die beste voraussetzung, um ein marienkäfer zu sein.

das beobachten von dingen, die sich bewegen, macht es noch schlimmer. weil die entfernungen zu groß werden. weil sinnbilder auf der langen strecke verbluten. aber du kannst es nicht lassen. dabei solltest du dich hinlegen, um der angst vor dem kontrollverlust zu entgehen. oder fallenlassen. stehen jedenfalls ist keine antwort. stehen ist nur eine frage. das ändert keine perspektiven. such dir feststehende gegenstände in deiner nähe, um dem schwindel zu entgehen. und ändere deinen blickwinkel. du kannst es dir nicht weiter leisten, auf der stelle zu treten. immer nur auf diesen einen punkt zu starren, der doch längst außer sichtweite ist.

aber weit ist ja auch nur so ein ungenaues gefühl. und wie weit ist zu weit? nicht mehr als eine monotone reflexion. es gibt jetzt wichtigeres. denn nicht nur schweigen ist feige. stillstehen ist es ebenfalls. und hüpfburgen sind ja auch so eine sache. vielleicht eine art von sofortmaßnahme. nicht unbedingt das gleiche wie klippenspringen. aber jede bewegung bringt dich weiter. weiter weg von der frage: warum hast du dich von mir über das meer tragen lassen, wenn du doch schon beim überqueren von regenpfützen herzrasen bekommst?

schafe wecken, um nicht von vinni puch zu träumen

die falten aus der bettdecke schreiben. sie wegstreichen. mit der handfläche. die spuren der nacht in worte auflösen. weil da noch immer dieses seitenstechen ist. du hast dich verausgabt, ja. du bist zu lange mitgerannt. hast dich fremden spielregeln unterworfen. denkst du etwa, davon bleibst du unbeschadet? jedes aufstehen und weitergehen hinterlässt spuren. wie zerstörte ortschaften. aber was kümmerst du dich um die trümmer? du kannst den lauf des wassers nicht aufhalten, nur weil du die hand in den fluss hälst. das zählt nicht. das bringt nichts zum stillstand. schon gar nicht die widrigkeiten, die auf mädchenzungen in die welt gesetzt werden. wenn du darüber schreibst, änderst du nichts. glaubst du wirklich, du könntest etwas loslassen, wenn du es mit worten beständig machst? damit baust du nur denkmäler. also, frag dich nicht ständig, wie die dinge funktionieren, die uns dazu bringen, unvernünftig zu sein. sei lieber froh, dass du zuweilen noch vernunftswidrig sein kannst. nimm dir deine freiheit. geh raus. stell dich zwischen zwei häuser und streck die arme aus. schaff dir platz für deine träume. in der enge deiner gedanken wirst du sie nicht finden. schon gar nicht, wenn du das umschreiben willst, was sich nicht halten lässt.

auch wenn sie an dich glauben. und deine vorsicht mit unsicherheit verwechseln. wenn sie dich verurteilen, weil sie nichts mehr hassen als menschen, die ihre fähigkeiten in zweifel stellen. wenn sie annehmen, die kraft zu sein, während du die herrlichkeit bist. lass ihre gläser leer. schenk ihnen nichts nach. schreib nicht für ihre erwartungshaltungen. du weißt am besten, dass du deine worte nur nach ihnen schmeißt, um dich zu schützen. weil du angst vor der morgendämmerung hast. und weil dir ein gestern immer wieder im nacken hängt. was kannst du dafür, dass sie ihre sprachlosen lücken mit deinen pathetischen monstrositäten stopfen wollen? lass sie eigene welten schaffen, in denen sie schlafwandeln können. du bist nicht das buchstabengerüst fremder anträge.

und du kannst die falten nicht mit deinen texten glätten. sogar dein eigenes bett bleibt zerwühlt. egal, wie viel du schreibst. was gehen dich also fremde betten an? das ist nur betrunkenes flügelschlagen. damit kommst du nicht von der stelle. erst recht nicht, wenn du doch nur mundfaul schlafen gehen willst. weil du selbst dann noch gesehen werden willst, wenn du im schweigen einfach nur du selbst bist.

es gibt immer mehr als eine sache

manches dreht sich. um jemanden. oder etwas. aber am schluss immer um sich selbst. so passiert das, wenn man plötzlich auf stopp drückt. dann werden schubladen geschlossen. andenken verwahrt. erinnerungen ändern ihre farbe. und man merkt, dass die ersten lieder auch stets die letzten sind. dass selbst endlosschleifen ein ende haben.

beim zusammenzählen der gefühle sind fehler unterlaufen. eins und eins ergibt nicht zwei. aber es gibt immer mehr als eine sache. daran festhalten. mit der beiläufigkeit eines ertrinkenden. das ist nicht ganz so schlimm, wie auf wunder zu warten. durch den sommer lavendeln. mit ausgeschlafenen augen. jemandem eine haarsträhne aus dem gesicht streichen. vielleicht nicht nachdenken. vielleicht nicht nein sagen. vielleicht nicht glassplitter mit diamanten vergleichen. vielleicht einfach neu anfangen.

aber zu viel sehnsucht macht seekrank. dagegen hilft auch kein seufzen. und jedes feuerwerk zeichnet bilder in den himmel. bilder, die nicht gesehen werden wollen. und ständig der irrglaube, sich nur noch mehr unvernunft auf die schultern laden zu müssen. sich aus erdbeerroten sätzen hoffnungsschimmer zu weben. den anrufbeantworter abzuhören, um ihre stimme ins zimmer zu lassen. das ist leere luft. die sich nicht atmen lässt.

lieber hinsetzen. den staub aus den mundwinkeln wischen. nicht mehr mit wasserfarben sorgenfalten auf die stirn malen. nicht mehr inmitten von kulissen schlafwandeln. sondern sich mit dem kalkül erloschener abschätzungen etwas besseres einfallen lassen. und das unregelmäßige vibrieren der dinge bestaunen, die unausgesprochen auf der wasseroberfläche tänzeln. denn es ist ja doch meist anders. auch wenn es sich irgendwie immer gleich anfühlt.

eric clapton sucht seine gitarre, aber der blues hat sie aufgefressen

weißt du denn, was als nächstes kommt? nein, aber weil wir augen verschließen, glauben wir nicht mehr daran. wir rennen auseinander, zeitgleich und doch versetzt. irgendwie auch in gleiche richtungen. nur überholen können wir uns nicht. weil ich den worten hinterherrenne. und du vor ihnen wegrennst. weil die färbung der nacht violettblaue löcher verteilt. und an straßenecken monologe geführt werden. von flüchtlingen, die ihre feldlager inmitten der aufbruchstimmung errichten.

da hilft auch kein anhalten mehr. die geschwindigkeit hat uns den verstand aufgeweicht. langsam reden, gemeinsam laufen, den kopf zur seite drehen und den horizont mit wünschen verwöhnen – das nebelt sich in vergessen. wie das müdewerden mit kalten händen.

runde um runde. rennen. laufen. warten. und wieder rennen. on und off. sich unter der bettdecke verstecken. ohne gute-nacht-geschichten einen unterschlupf suchen. katzen beschwören. wach liegen. restlichter suchen. aufsammeln, was noch zerknüllt am boden liegt. die tür zusperren und die angst alleine lassen. mindestens eine armlänge von dir entfernt. das bauchgefühl in die arme nehmen. herzen verschränken.

aber du weinst. weil trophäen nicht verstaut werden wollen. und weil ich mich in dir vergraben habe. obwohl ich nicht wusste, was als nächstes kommt.

fassungsvermögen

begriffe sammeln, die sich nicht entzaubern lassen. in kartenhäuser schauen. denkmalpflege betreiben. und himmelblicken. möglicherweise flugzeugspuren verfolgen. den weißen schleppen aus sprühsahne beim verwehen zusehen. und dieses eine mal zu ende denken. auch wenn da stolperfallen warten. denn schweigen kostet den verstand. als würden wir songnamen tauschen. und doch immer wieder die gleichen lieder hören. sorgenfrei sieht irgendwie anders aus – sagst du. und lehnst dabei an der wand. vielleicht auch backsteine zählen. um wände aufzulösen. oder mauern errichten. zwischen denen jemand wohnt. egal wo. nur nicht hier. hier ist kein platz für uns. hier haben wir unser haltbarkeitsdatum überschritten.

warum denkst du ständig in metaphern? deine frage klebt irgendwo. zwischen unausgesprochenen satzhälften. oder hängt im raum. unvollendet, weil unbeantwortet. worte wie bruchstücke. buchstaben aus glas. zerknirscht und zerdacht. trotzdem eine antwort aus blei gießen. sich anstrengen. die stille aufbrechen. mit einem verstohlenen grinsen. aber der sonnenuntergang weist fehler auf. rosarote flicken verschieben die stimmung. von kaltschwarz hin zu freischwimmen ohne rettungsweste. und da oben, sieh nur. ist das nicht ein segelschiff, das die wolken partagiert?

die letzten seiten an die brust pressen. aufsteigen. zerfleddert. aber glücklich. ohne gepackte koffer reiseziele verschwenden. etappenweise zungen verknüpfen. einsteigen. aussteigen. sitzenbleiben. unsicherheiten zur neuen marschroute erklären. dann alles ablegen und noch einmal springen. ohne seil. denn im fallen werden helden geboren. das aufschlagen verschieben wir auf morgen.

kein liebesbrief

die vögel fliegen heute tiefer über der stadt. vielleicht spüren sie, dass etwas nicht stimmt. vielleicht waren auch sie es, die das azurblaue meer geteilt und einen dunkelgrauen schleier am himmel verteilt haben. vielleicht ist es der richtige abend für einen brief, den ich nie abschicken werde. aber trotzdem schreiben muss.

denn etwas sticht. spürst du es auch? es windet sich wie ein aal. es fragt. es schweigt. es ruft. ist lautlos. und sticht. mal in der magengrube. mal tief im herzen. es ist etwas, das andenken bewahren will. das sich jeden morgen wiederbelebt. das sich nicht wegspülen lässt. ich muss es frei lassen. damit es sich nicht länger an mir festhält. so wie du dich viel zu lange an mir festgehalten hast. obwohl ich dich davor gewarnt habe, gefährdet zu sein. aber deine bisse gingen tief. für sie habe ich mein bestes lächeln aufgesetzt.

ich habe versucht, einen kreis um uns zu ziehen. einen kreis aus zuversicht und lebensleichter sorglosigkeit. um dir einen ort zu formen, an dem du zu hause sein kannst. ein ort, an dem du geborgen bist. an dem der duft frischer blumen auf dich wartet. ich habe versucht, ein gegenpol zu der ungewissheit in deinem leben zu sein. ich wollte dir zeigen, dass dich erst deine fehler und verrücktheiten zu der frau machen, die ich mit einem grinsen auf den lippen vermisst habe, wenn sie auf reisen war. deren mut mich mit stolz erfüllt. und deren schwächen sie nicht angreifbar, sondern nur noch wertvoller machen. der ich zutraue, diese welt mit einem wimpernschlag untergehen zu lassen. und mit nur einem lächeln die trümmer wieder hinfortzufegen. du bist eine frau, die es nicht nötig hat, sich unter wert zu verkaufen. du bist großartig. so wie du bist. ohne abstriche. ich weiß, wovon ich schreibe. ich durfte für einen kurzen augenblick auf deiner seele spazieren.

aber bei herzensangelegenheiten ist überzeugungsarbeit vergebene liebesmüh. ich habe gegen verschlossene türen geklopft. und dabei alle warnschilder außer acht gelassen. weil ich auf der suche nach einem schlupfloch war. weil ich händeringend zwecklose worte wie einen roten teppich auslegen wollte, auf dem der tanz durch einen warmen sommerregen möglich schien. und bin damit schlussendlich doch nur im selbstbetrug baden gegangen. dem alltagsmärchen, das ich mir für uns ausgedacht habe, überlässt du einen letzten seufzer. wahrheiten, das sind die dinge, die man sich nicht ausdenken kann. unsere hast du irgendwo zwischen den zeilen aufgesammelt. während ich noch über dem schriftwerk hing.

mein herzschlag hat unsere schritte überholt. noch immer presse ich meine hände auf die ohren, um den nachhall des abschieds nicht hören zu müssen. in schlaflosen nächten denke ich daran, wie gerne ich neben dir wach lag. weil ich dir dann beim schlafen zusehen konnte. weil die zufriedenheit in deinem blick jede einzelne stunde zu dickflüssigem sirup werden ließ, an dem ich mich mit freude betrunken habe. vielleicht zu sehr. vielleicht zu oft. vielleicht habe ich mich deswegen in dir verlaufen.

manchmal kommt man an einen punkt, an dem man merkt, dass nichts mehr an seiner gewohnten stelle ist. man sitzt immer noch am tisch. obwohl der andere längst aufgestanden ist. und im raum der nachgeschmack von teenagerküssen noch an den wänden haftet. man wartet darauf, das vertraute gesicht am fenster zu sehen. bereit für einen bummel durch die stadt. aber das warten ist vergebens. und diese stadt ist auch nicht mehr die gleiche. ihre farben sind verblasst. das sonnenlicht hat ihren glanz ausgewaschen. und nun schleppt sie sich grau meliert durch die leeren tage. hier und da sind noch ein paar abdrücke von uns im straßenpflaster. doch auch sie verwelken allmählich unter dem trampeln der fußgänger. löwen fressen herzen auf – dieser satz hängt noch an mir. dennoch, ich stehe auf und ziehe weiter. von einer tür zur nächsten. mit nichts als erinnerungen in den taschen.

you’re such a beautiful freak
i wish there were more just like you
you’re not like all of the others

mixed tape

prolog

dezemberstille. weil wir freiheit lieben: longdrinks & luft holen,
ohne punkt & komma weltmeere zusammenschnüren. mühelos.

I

himmel so blauschnee, stadtinnerliche unruhe, morgenköpfe
erwachen im hinterzimmer: kannst du nicht einfach still sein
& nur gut aussehen!?
nein. i’m not one of those who can easily
hide …
teepausen verzögern atmungsschnittstellen. nahtlos.

– denkpause –

II

machen einen brückenaufschlag: kleine gesten. warum machst
du das? du weißt doch, dass es traurig enden wird …
weil ich für
eine flüchtige zeitspanne auf leichtfüßigen fallen balancieren will.
mit kratzspuren am rücken & deinem blick in der hand. come here,
stay with me.
klangzartes seufzen, wenige gehminuten am strand.

– denkpause –

III

tonspurknistern nach der elegie vom kissenschmachten: there i
just said it, i’m scared you’ll forget about me.
angstaufbrauchen,
unverschämt zu dieser jahreszeit. zuckerfänger haben aufgehört:
wohin gehen träume, um zu sterben? in kleinstadtclubs, herzen
aufweichen, katzenlieder singen. und dann: marmeladengläser
regnen herab, die nacht zerläuft – himbeertropfen zum finale.

– entzwei gedacht –

epilog

lächeln fällt frühlingsschwer, weil vom mai entzaubert: ein kilo-
meterweites aushauchen. über textzeilen gekipptes schweigen.